Vom Bob Dylan für Arme zum Mariachi im Monsun

Kleine Konzerte in allabendlich wechselnder Besetzung

Die Trainingsbedingungen hätten damals optimaler eigentlich nicht sein können: Ich wollte mein Spanisch verbessern, wie ginge das wohl besser als mit Gesang? Mein Lehrer Miguel war sehr geduldig und hatte irgendwie einen Narren an mir gefressen; vermutlich war ich der erste Ausländer, der sich überhaupt je für mexikanische Folklore interessierte. Und dann brach mir auch noch ungefähr zur Halbzeit des Gitarrenkurses ‚Traditionelle mexikanische Lieder‘ eine junge Französin das Herz. Und das kann sich durchaus als nützlich erweisen, wenn das Thema eines jeden Liedes ohnehin Liebeskummer ist.

Alles ließ also darauf schliessen, dass ich diesen Kurs an der Universität von Guadalajara erfolgreich abschliessen würde!

Ein paar Wochen später war meine Zeit in jener zweitgrößten Stadt Mexikos zu Ende, die als Geburtsort der Mariachi-Kultur gilt. Tatsächlich hatte ich etwa acht traditionelle Schmachtlieder im Gepäck, die ich auswendig und, wie ich finde, ziemlich überzeugend beherrschte. Die Zeit bei meiner Gastfamilie hatte ihren Teil dazu beigetragen, dass ich nahezu akzentfrei sprach. Und beim Singen konnte man mich fast schon für einen waschechten Mariachi halten. In den folgenden Wochen gab ich meine Neuzugänge im Repertoire auf meiner Reiseroute durch Mexiko, Guatemala und Belize unzählige Male zum Besten. Besonders gut kamen die Songs dann an, wenn mal wieder jemand glaubte, dass ich nicht mehr war als ein Bob Dylan für Arme. Dieses Urteil, dass im Grunde ziemlich nah an die Realität herankam, konnte ich mit meinen mexikanischen Schnulzen tatsächlich meistens entkräften. Zumindest vorübergehend.

Musiker und Zuhörer in einem Hostel
Kleine Konzerte in allabendlich wechselnder Besetzung

Drei Jahre später verschlug es mich ein weiteres Mal nach Mittelamerika. Ich hatte als Tourguide in den USA gearbeitet und liess mich nach dem Ende dieses Jobs einfach treiben. Die Zeichen der Zeit standen auf Süden. Alles Andere war erst mal unerheblich. Und so arbeitete ich mich langsam, aber stetig vom kalifornischen San Francisco den ganzen Weg runter bis nach Panama. Fast fahruntüchtige Busse wurden meine besten Freunde. Bachata wurde zu meiner neuen Lieblingsmusik. Der karge mittelamerikanische Speiseplan wurde zu meinem täglichen Ärgernis.

Bus vor Gebäude in Guatemala
Ein vergleichsweise neues Exemplar eines Chicken Busses – und zugleich Motivgeber für das Life is a Trip Logo!

Meine Gitarre hatte ich wieder dabei, frisch geputzt und mit nagelneuen Saiten versehen. Und nun, nach bereits fünf Monaten on the road, konnte ich ein Repertoire aus dem Gedächtnis abspulen, das sogar noch jenes meiner letzten Reise deutlich in den Schatten stellte. Von den mexikanischen Liedern, die mir mein gutmütiger Lehrer Miguel damals in Guadalajara beigebracht hatte, hatten jedoch nur zwei die Jahre überdauert. Ein fröhliches und ein trauriges. Doch diese beiden streute ich nach wie vor ein, wenn alle mal wieder dachten, sie wüssten, woran sie bei mir musikalisch sind.

Ausblick auf die Golden Gate Bridge
Startpunkt San Francisco – Die Golden Gate Bridge

Wochenlang zog ich diesmal durch Mittelamerika. Ein Van meines ehemaligen Arbeitgebers, eines Veranstalters für US-Touren, nahm mich kostenlos mit bis nach Mexico City. Von da an kamen die mittelamerikanischen Busse ins Spiel sowie ab und an auch mal ein Boot. Mexikos Westküste, Mexikos Ostküste, dann Guatemala und Belize – mit einer Reiseroute, die in puncto Idiotie ihresgleichen suchte. Doch wie gesagt: ‚Go with the flow‘ war die Devise der Stunde, der ich mich ohne Einschränkungen verschrieben hatte. Und wenn die eklektische Gruppe vorübergehender Freunde aus der ganzen weiten Welt sagte „Let’s go back to the mountains near Mexico“, dann waren diese Berge eben das nächste Ziel, selbst wenn ich gerade erst von dort gekommen war.

Menschen in Tracht während eines Festes in Guatemala
In den Bergen Guatemalas: Das irrwitzige Dorf Todos Santos. Nein, die Leute sind hier nicht immer besoffen. Ja, die Leute tragen hier immer identische Klamotten… Mehr zu diesem Bild hier.

Ab Honduras dann jedoch war ich die meiste Zeit über alleine unterwegs. Unsere Gruppe hatte sich am malerischen Lago de Atitlán aufgelöst und nach nunmehr Monaten, die ich von Menschen umgeben war, genoss ich es, endlich mal auf mich alleine gestellt zu sein. Klar, man hing mal für ein paar Tage mit Leuten rum, etwa auf der tollen Insel Ometepe in Nicaragua, ein paar Tage später aber war man wieder eine One-Man-Show. Und das fühlte sich gut an zu jener Zeit, auch wenn mich die Einsamkeit manchmal echt fertig machte. Doch immer dachte ich, dass sich das sicherlich später einmal auszahlen würde. Und das kann ich im Rückblick zumindest zum Teil bestätigen. Ich mit mir selbst – das kann ich auch heute noch immer ganz gut.

Gruppe junger Männer auf einem Gipfel
Meine illustre, multinationale Reisegruppe am Tag des Abschieds: Phillipp, Tomer, Ron, Shaun

Dann jedenfalls ging meine Zeit auf dem amerikanischen Kontinent langsam, aber sicher zu Ende. Einem spontanen Impuls nachgebend hatte ich mir in Costa Rica ein Ticket nach Thailand gekauft. Was kostet die Welt?! Und so hatte ich plötzlich nur noch ein paar Tage, um mir auch noch schnell Panama anzusehen.

Sonnenuntergang mit Meer und Strand in Mexiko
Einer von vielen Stränden auf dieser Reise – vermutlich nördliches Mexiko

Der Zufall wollte es, dass kurz nach meinem Eintreffen in Costa Rica die Regenzeit begonnen hatte. Und Regen zur Regenzeit in den Tropen – das ist ein bisschen was Anderes als ein gemeiner deutscher Schauer. Es regnete im Grunde ohne Unterlass. Gar nicht mal so stark, aber eben doch immer. Immer!

Geschäft mit Gummistiefeln in Panama
Und plötzlich verkauften alle Läden nur noch Regenjacken und Gummistiefel…

Und so goss es auch, als ich endlich über eine rostige Brücke die Grenze zwischen Costa Rica und Panama überschritt. Mit schrumpliger Haut, als sei ich in der Badewanne eingeschlafen, erreichte ich schließlich ein paar Stunden später die Bocas del Torro, eine Inselgruppe vor der Ostküste von Panama. Ich hatte im Bus einen sympathischen, gedreadlockten Typen aus Uruguay kennengelernt, der meinte, dass ich diese Inseln unbedingt sehen müsste, und mich dann kurzerhand mit zu einem italienischen Freund nahm, dem – hatte ich das richtig verstanden – eine ganze Insel gehörte.

Mann mit regenmantel in einem Boot auf einem Fluss
Im Boot. Im Regen.

Ein paar Tage lang hing ich auf dieser Insel rum, ass in regelmäßigen Abständen mittelmäßige Pizza und schaute dem Regen dabei zu, wie er immer neue Wege in meine bescheidene Hütte fand. Ging ich raus, machte ich mir oft nicht mal mehr die Mühe, eine Regenjacke anzuziehen. Es war ohnehin bereits alles nass, was ich besass. Die Inseln selbst schienen sehr hübsch zu sein, wenn ich sie mir bei trockenem Wetter vorstellte. Doch der Regen wollte einfach nicht nachlassen.

Und so beschloss ich an Tag 4, nach einer doch recht tollen Expedition zu einer Insel mit kleinen roten Fröschen, mich wieder irgendwohin zu begeben, wo ich eventuell in der Lage sein würde, mein Hab und Gut zu trocknen. Auch die Sonne wollte ich gerne mal wiedersehen.

Roter Frosch auf nassem Untergrund
Einer von vielen roten Fröschen. Schien ihm nichts auszumachen, immer durchnässt zu sein.

Zurück auf dem Festland musste ich jedoch feststellen, dass der Bus zurück nach San Jose erst in zwei Stunden fahren würde. Rundherum jedoch gab es nichts als ein paar kleine Häuschen, die vom Regen dampften. Als ich mich gerade darauf einstellte, die Wartezeit in der Nässe zu verbringen, erblickte ich auf einer für diese Gegend typischen Veranda einen alten Mann in einem Schaukelstuhl. Sachte wippte er unter seinem Vordach hin und her und sah mir mit freundlichem Interesse dabei zu, wie ich versuchte, mich und mein Hab und Gut mit einer Plastiktüte vor dem Regen zu schützen. Ich hatte noch nicht zurückgelächelt, da winkte er mich schon mit langsamer Geste zu sich.

Der alte Panamaer musste sicher schon jenseits der 80 sein. Eingehüllt in eine Decke sass er da und nippte ab und an am Rumglas. Es war offensichtlich, dass dies die Art und Weise war, wie er die meisten seiner Tage verbrachte. Eine Flasche Siebenjährigens stand neben dem Schaukelstuhl und war bereits halb geleert. Vorzügliches Gebräu, dachte ich noch so bei mir, schon hatte er mir ebenfalls ein Glas herübergeschoben.

Natürlich wollte der alte Mann wissen, woher ich kam, was ich machte, wie mir sein Land gefalle. Ich verstand fast alles, was er sagte und versuchte, seine Fragen so gut es ging zu beantworten. Mir schien, dass er sehr froh war, jemanden zum Reden zu haben, und war dessen Spanisch auch noch so seltsam.

Das Gesicht des Mannes sprach Bände. Die Falten um Mund und Augen verrieten mir, dass er ein fröhliches Leben geführt haben musste. Seine Augen selbst versprühten eine altersmilde Gutmütigkeit. Seine Bartstoppeln, schlohweiß wie sein Haar, schienen mir, als seien sie in diesem Stadium stehengeblieben. Insgesamt machte sein ganzer Körper den Eindruck, als habe er seine Geschwindigkeit stark gedrosselt.

Nach ein bisschen Smalltalk zeigte er schließlich auf meine Gitarre, vielleicht das einzige Gepäckstück, das noch nicht vor Feuchtigkeit triefte, da ich die ohnehin schon wasserdichte Gitarrentasche sogar noch mit Plastiktüten umwickelt hatte. „Spielst Du die auch oder trägst Du die nur herum, um Frauen klarzumachen?“ fragte er mit einem verschmitzten Lächeln und brach dann in hustendes Gelächter aus. Ich ergab mich der Aufforderung.

Meine ersten zwei Stücke von den Turin Brakes und den Stereophonics schienen ihn völlig kalt zu lassen. Sein Blick schweifte ab und er nippte gelangweilt an seinem Rum. Doch da fielen mir plötzlich meine beiden mexikanischen Stücke wieder ein. Ich fragte ihn, ob er mit der Musik Guadalajaras vertraut sei. „Claro!“, skandierte er. In ganz Mittelamerika würde man die alten Klassiker aus Mexiko hören. Ohne weitere Worte begann ich das traurigere der beiden Stücke zu spielen. Die Akkorde waren wahrlich kein Zauberwerk, bei allen Liedern folgten sie im Grunde demselben Muster. Doch ich hoffte, dass ich auch den Text richtig erinnerte. Offenbar tat ich das.

Was dann passierte, war wundervoll. Der alte Mann erwachte buchstäblich zu neuem Leben. Seine Augen begannen zu strahlen, seine Mundwinkel hoben sich bis tief in die Lachfalten hinein. Es schien mir, als würde er zwischendurch immer wieder in Erinnerungen verfallen. Nach ein paar Takten jedoch begann er, gemeinsam mit mir zu singen. So laut und deutlich, dass ich kaum glauben konnte, dass diese Stimme aus seinem Mund kam. Zum Ende des tragischen Liedes standen meinem neuen Freund tatsächlich Tränen in den Augen. Als der letzte Akkord verklungen war, nahm er all seine Energie zusammen und beugte sich vor, um mich herzlich zu umarmen. Ich hatte das Gefühl, dass ich damit nun offiziell bereit war, Mittelamerika zu verlassen.

Doch dieser Moment auf der kleinen Veranda – der singende alte Panamaer, seine Emotionen, der unablässig fallende Regen über der löchrigen Strasse, die zeitlosen Worte des mexikanischen Liedes. All das hat sich wohl für immer in meinem Kopf festgebrannt. Es sind Momente wie dieser, warum man das alles macht. Warum man die Einsamkeit und die schlechten Busse auf sich nimmt. Warum man weiterzieht, selbst wenn man Heimweh hat. Warum man sein Geld lieber in ein Flugticket als in neue Klamotten investiert.

Wenn ich eines Tages mit einem Glas Rum auf meiner eigenen Veranda sitze, dann werden es diese Momente sein, die mir meinen Lebensabend versüßen. Wenn dann ein Fremder vorbeikommt, kann er sicher sein, dass ich ihn zu mir auf die Veranda bitten werde.

Und hier nun, 10 Jahre später, das Lied. Ich kann es auch heute noch auswendig:

Und für die Nicht-Spanischkundigen hier noch eine extrem verknappte Zusammenfassung des Textes:

„Meine Angebetete will mich wirklich nicht – Mist – Was nun?! – Ach ja, ich bin ja Mexikaner – Und auch noch aus Jalisco – Klarer Fall: Tequila – Mariachis – Noch mehr Tequila – Und dann: Diese doofen Mariachis spielen auch noch was mit Gefühl – Oh Mann, ich muss doch echt weinen…“

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