Varanasi – Ich wollte es so gerne mögen

Varanasi overview

Varanasi ist eine der ältesten dauerhaft bewohnten Städte der Welt und gilt als eines der sieben Heiligtümer im Hinduismus. Hier kommt man vor allem her, um zu sterben oder um Verstorbene am Ufer des Ganges zu verbrennen. Sich zwischen den Flüssen Ganges und Asi seiner fleischlichen Hülle zu entledigen, kommt im Hinduismus einer Abkürzung ins Nirvana gleich. Denn dadurch entgeht man dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburt, unabhängig vom in den letzten Leben angesammelten Karma, sei es auch noch so schlecht. Ein Bad im heillos verschmutzten Ganges wäscht zudem von alten Sünden frei. Es lohnt sich also auch, schon mal nach Varanasi zu kommen, bevor man zu sterben gedenkt.

Menschen auf einem Boot auf dem Ganges in Varanasi
Der Ganges

Ich verlasse mein Hotel mitten in der Altstadt mit seinen engen Gassen. Keine 50 Meter weiter habe ich mich auch schon verlaufen. Der Betonboden ist matschig vom gestrigen Regen. An vielen Stellen ist der Pfad so schmal, dass man beide Wände der angrenzenden Häuser berühren kann.

Es gestaltet sich als fast unmöglich, nicht in Kacke zu treten. Alles ist voll davon – Hundehaufen, Ziegenköttel, Kuhfladen. Dazwischen überall Müll. Rechts von mir pisst gerade ein Mann in eine Ecke und unterhält sich derweil mit einem vorbeitrottenden Kind. Die Gerüche, überall recht intensiv, erreichen hier den bisherigen Tiefpunkt. An der nächsten Ecke biege ich rechts ab, nur um wieder auf hohe Wände zu allen Seiten zu blicken. Ein verfilzter Hund schlüpft an mir vorbei. Erst von hinten sehe ich, dass er einen Welpen getötet hat und diesen nun offenbar zum Essen in eine ruhige Ecke trägt. Der Tod ist hier allgegenwärtig.

Hunde or einem Schild in Varanasi
Hunde in Varanasi

Von rechts bietet mir ein Mann Wasser und Zigaretten zum Kauf an, von links spuckt einer eine ordentliche Portion Betelsaft auf den Beton. Ich spüre Spritzer davon an meiner Wade. Vor mir steht eine Ziege auf dem Sitz eines Mopeds, sie scheint auf Krawall gebürstet und angriffslustig. Mir scheint, dass hier jedes Tier machen kann, was es gerade möchte.

Ziege in einer Gasse von Varanasi
Eine angriffslustige Ziege

Plötzlich vernehme ich ein lautes, rhythmisches Klingeln, dazwischen singen ein paar Leute immer wieder dieselbe Zeile, eine Art Mantra. Vorsichtshalber klettere ich über einen vom Regen zerlaufenen Kuhfladen und klemme ich mich in einen Hauseingang. Sekunden später passieren mich etwa zehn Menschen mit einer Trage aus Bambus, auf der ein Toter ruht. Man kann den Körper jedoch nur erahnen, denn er ist komplett in weiße Tücher gehüllt. Die Trauergemeinde ist unterwegs zu einem jener Ghats, wo die Toten verbrannt werden. Viele der hier ankommenden Inder sehen zum ersten Mal in ihrem Leben den heiligen Ganges.

Nächste Ecke, nächster Verkäufer. Diesen kann ich kaum verstehen, denn er hat den Mund voller Betelsaft. Sein Stand führt grellbunte Leichentücher sowie Statuen und Bilder aller wichtigen Gottheiten von Shiva bis Ganesha. Die nächsten Stände bieten ein ähnliches Sortiment. Dazwischen stehen Zigarettenwallas, Stoffhändler, Läden mit einer riesigen Auswahl an Süßigkeiten, Handleser sowie kleine Geschäfte mit täglichem Bedarf. Hier und da ein Barbier und an jeder Ecke brutzeln und kochen Leckereien, die ich zum Teil noch nie gesehen habe. Und dann immer mal wieder ein kleiner Tempel, meistens dem örtlichen Platzhirsch Shiva gewidmet, manchmal aber auch anderen Gottheiten.

Frau in kleinem Geschäft in Varanasi
Ein winziger Chai Shop

Ich gelange kurz auf eine breitere Straße, nachdem ich gerade einen alten Mann passiert habe, der in einer noch kleineren Seitengasse Wäsche bügelte und mich dabei freundlich grüßte. Der Betrieb hier ist noch viel schlimmer, alles ist in Bewegung. Was sich jedoch plötzlich ändert, ist der Geruch; er wird zum ersten Mal fast angenehm. Ich blicke mich um und sehe, dass hier in allen Geschäften Käse feilgeboten wird. Paneer, die indische Variante von Käse.

Ein Stück weiter ist die Straße voller bewaffneter Soldaten, sie bewachen den angrenzenden Tempel, in dem es vor ein paar Jahren einen Anschlag gegeben hat. Auf dem Boden davor sitzt eine verwahrloste Frau mit einem kleinen Kind und bettelt. Da man hier praktisch an jeder Ecke jemandem etwas geben könnte, gebe ich mittlerweile fast gar niemandem mehr etwas. Ich fühle mich seltsam abgeschnitten von der harschen Realität, die hier herrscht. Vielleicht die einzige Chance, nicht bekloppt zu werden.

Hinter der Frau biege ich wieder in eine Gasse und passiere einen Laden, von dem behauptet wird, er hätte den besten Lassi ganz Indiens – Blue Lassi. Ich setze mich zu den Touristen und blicke wie diese mit unergründlicher Mine in die engen Gassen mit den vielen Geschäften. Während ich auf mein Joghurt-Getränk warte, kommt immer mal wieder eine weitere Trauergemeinde mit einem Toten vorbei. Die meisten Menschen nehmen davon nicht mal mehr Notiz. Dann endlich halte ich die Tonschale mit meinem Granatapfel-Lassi in den Händen. Und tatsächlich ist er eine wahre Geschmacksexplosion. Nach einer halben Stunde ziehe ich weiter.

Sadhu neben anderen menschen in einer Gasse von Varanasi
Ein ‚Sadhu‘ vor einer Garküche

Ein Verkäufer deutet auf mein Gesicht und ruft laut: „Viele Pickel!“ „Danke“, schreie ich zurück, „ist mir noch gar nicht aufgefallen.“ Sekunden später werde ich fast vom Lenker eines Mopeds erfasst. Nur eine blitzschnelle Drehung kann uns beide noch vor Schmerzen bewahren. Statt seine Fahrt  in der winzigen Gasse zu verlangsamen, hupt der Fahrer einfach ohne Unterbrechung, während sich die Fußgänger völlig ungerührt Möglichkeiten zum Ausweichen suchen. Ich biege diesmal nach links ab. Ist mittlerweile ohnehin egal, denn ich habe keinen Schimmer mehr, wo ich bin. Drei Kühe versperren mir den Weg. Zwei Kinder, die barfuß in der Kuhscheiße herumlaufen, klatschen der einen auf den Arsch, dann bewegt sich die kleine Herde widerwillig ein paar Meter weiter und blockiert eine andere Gasse. Die Kinder lachen mir zu und winken. Kurz dahinter frisst eine Gruppe Ziegen den Müll aus den am Boden liegenden Tüten. In den Hauseingängen dösen räudige Hunde und Katzen. Einige der Häuser sind Ruinen. Sie sind bis zur Decke mit Müll vollgestopft. Man möchte es hier in Varanasi irgendwie schön finden, aber leicht wird es einem wirklich nicht gemacht.

Kuh vor zwei Türmen in Varanasi
Eine von vielen, vielen Kühen, die auf den Strassen Varanasis umherwandern

Die Kinder in Varanasi spielen alle mit selbstgebastelten Drachen, die zu Dutzenden hoch über der schrägen Kulisse flattern. Ich sehe, wie eine Gruppe Kinder eine Horde Affen anschreit, die einen der Drachen gefangen hat und ihn gerade in Stücke reißt. Boshafte Tiere, diese Affen.

Affe vor Gitterstäben in Varanasi
Führt nichts Gutes im Schilde: Affe in Varanasi

Es geht nun ein paar Stufen runter, ich muss also auf dem Weg zum Ganges sein. Da wollte ich hin. In einem Tunnel liegen ein paar Sadhus (heilige Männer) mit bunten Gesichtsbemalungen und riesigen Bärten. Alle tragen lediglich einen orangenen Umhang, einer hält abwesend einen Dreizack in der Hand. Sie wollen Geld und halten wortlos ihre Hände auf. Ich ignoriere sie. Erst später lese ich, dass es schlecht fürs Karma ist, einem Sadhu nichts zu geben. Ehrlich gesagt: Wenn sie einem dann noch mit Aberglaube kommen, dann erst recht nicht.

Da ist er ja, der sechstschmutzigste Fluss der Erde, der für die Inder ein wahres Heiligtum ist. Die Verschmutzung sieht man ihm erst mal gar nicht an. Doch riechen kann man sie gut. Zu den für Schwellenländer typischen Umweltverschmutzungen kommen hier in Varanasi noch die ganzen Leichengifte. Die Leichen von Kindern, Schwangeren und Sadhus werden nämlich nicht verbrannt, sondern direkt mit einem Gewicht in der Flussmitte versenkt, wo sie sich dann zersetzen.

Am Ufer trocknet Wäsche, viele bunte Tücher liegen direkt neben den Kuhfladen, die man hier breitklopft und in der Sonne zu Brennmaterial werden lässt. Die Ghats genannten stufigen Uferbefestigungen, ursprünglich als private Zugänge zum Wasser für die jeweiligen Maharadschas gebaut, zerfallen an allen Ecken. Und auch hier sieht man leider überall Müll und Scheiße. Der Hintergrund jedoch ist wirklich außergewöhnlich. Viele architektonische Stile reichen sich hier die Hand, alles erstrahlt in den wildesten Farben. Die Sonne kommt heraus.

Wäsche trocknet vor bunten Häusern in Varanasi
Wäscheleinen entlang des Ganges

Auf Vorsprüngen haben sich weitere Sadhus kleine Unterschlüpfe gebaut, in denen sie sitzen und meditieren oder mit Touristen quatschen. Ich brauche das gerade nicht. Zumal ich weiß, dass hier vermutlich jede Unterhaltung darin endet, dass man Geld zum Fenster hinauswirft. Vielleicht muss man einfach so bekifft sein wie die Meisten hier, um Varanasi in seiner Ganzheit wahrzunehmen und zu wertschätzen. Ich hingegen fühle mich wie ein Zaungast.

Ein Sadhu am Ufer des Ganges in Varanasi
Ein Sadhu lässt es langsam angehen am Flussufer

Ich wandere weiter entlang des Flusses. Etwa alle drei Meter bietet mir jemand etwas an – Bootsfahrt, Klamotten, Seide, Schmuck, Haschisch, Bhang Lassi (einen mit Gras vermischten, hoch potenten Lassi). Besonders Drogen werden mir im Minutentakt angeboten – es muss mein Bart sein, der das bewirkt. Nach einer Weile schaue ich nur noch stur geradeaus.

Im Fluss waschen sich ein paar Leute die Sünden weg, direkt neben einem Abwasserrohr, das zum Himmel stinkt. Ein Junge spricht mich an und ich ermahne mich dazu, neutral zu bleiben. Grundregel Nummer 1 auf Reisen: Jeden so behandeln, als wäre er der erste, den man trifft. Und tatsächlich entpuppt sich der Junge als sehr höflicher Student, der nur etwas Englisch quatschen möchte und nach ein paar Minuten weiterzieht.

Mensch neben einem Shiva-Plakat am Ganges
Shiva und der Ganges

Dann beginnt es subtil nach Grill zu riechen. Ich ahne Schreckliches. Und tatsächlich, hinter der nächsten Biegung stehen sieben Scheiterhaufen, von denen sechs bereits lichterloh brennen. Auf den Feuern liegen die kokelnden Körper. Zu den Seiten des Platzes stehen hohe Stapel aus Holz. Daneben sind Waagen aufegabut, denn das Holz für jedes einzelne Feuer wird nach Gewicht berechnet. Auf dem Fluss dümpeln Boote mit Nachschub. Das Holz kommt den ganzen weiten Weg aus Kalkutta. Zwischen den Feuern fressen Ziegen und Kühe die übrig gebliebenen Blumengirlanden, mit denen die Körper geschmückt waren. Hunde schlafen unbekümmert in der Asche. Eines kann ich mit Sicherheit sagen: Ein solches Bild habe ich noch nie gesehen.

An einem Feuer, das schon fast erloschen ist, sehe ich, wie ein Junge mit zwei Stöcken ein Bein bewegt, das nicht verbrannt ist. Er bedeckt es mit ein paar Stücken Glut, auf dass es ebenfalls noch zu Asche werde.

Der Geruch ist nicht ansatzweise so schlimm, wie man erwarten würde. Man arbeitet hier mit verschiedenen Kräutern als Feuerzusatz,  welche die Ausdünstungen unterdrücken. Ab und an hört man eine Art Knacken; das sind die Schädeldecken, die in der Hitze zerspringen. Jedes Mal schaudert es mich und ich wünschte, nie davon gelesen zu haben.

Ich beobachte eine Weile das Geschehen. Neu ankommende Leichen werden zunächst in den Ganges getaucht, dann auf einem der Holzhaufen platziert. Die Trauergemeinde umkreist danach die Feuerstelle ein paar Mal. Das Gesicht des Toten wird noch einmal enthüllt, damit ein Angehöriger ein letztes Foto machen kann. Dann setzt man den Stapel in Brand. Ghee, eine Art Butterschmalz, beschleunigt die Feuer. Tränen sieht man hier nicht. Die Trauergemeinde steht neben dem Feuer und sieht dabei zu, wie sich der Angehörige in Rauch und Asche verwandelt. Der Tod hat hier einen ganz anderen Stellenwert, man klassifiziert ihn eher als etwas Gutes, zumindest aber nicht als das Ende.

Menschen und Häuser am Ganges
Nicht weit vom Manikarnika Ghat, einem der Ghats, an dem Menschen verbrannt werden

Eine Indiskretion diesen Ausmaßes wäre in unserer Kultur nicht vorstellbar, wo der Tod stets tabuisiert wird. Überall wuseln hier Menschen und Tiere, direkt neben dem Burning Ghat stehen die Touristen mit gefrorenen Minen und begutachten das Schauspiel. Wenigstens darf man hier nicht fotografieren. Doch am zweitwichtigsten Kremations-Ghat, einen Kilometer den Ganges rauf, ist wohl sogar das erlaubt.

Der Anblick brennender Körper berührt mich weniger, als ich erwartet habe. Ich fühle mich emotional außen vor. Eine wahrlich fremde Welt. Ich habe nichts damit zu tun.

Nach einer Weile ziehe ich weiter. Aus großer Entfernung mache ich ein Foto des rauchigen Panoramas. Im Bruchteil einer Sekunde stehen zwei Typen neben mir, die gefährlich und sehr sauer wirken. „You are in big trouble“, sagt der Eine. „If police finds that photo on your camera, you pay 5000 dollar and go to jail for two months.“ So ganz kann ich das nicht glauben, aber die beiden insistieren. Ich entschuldige mich für das Foto und beteuere, dass ich dachte, ich sei längst weit genug weg vom Geschehen. Wovon ich im Übrigen noch immer überzeugt bin. Ich biete an, das Foto sofort zu löschen, aber der eine Typ schlägt mir fast die Kamera aus der Hand. Der andere sagt: „That is like killing someone and then saying sorry.“ Was also kann ich machen, um mein Karma wiederherzustellen? Die Antwort heißt Geld. Hatte ich irgendwie im Gefühl.

Menschen vor bunten Häusern am Ufer des Ganges
Varanasi – Bunt, aber nicht uneingeschränkt gut

Der Mann, der noch etwas böser dreinschaut als der andere, führt mich in ein Haus ohne Fensterscheiben. Vielleicht ist es jenes, in dem schwerkranke Menschen wohnen, die hier zum Teil monatelang auf den Tod warten. Im dritten Stock sitzen zwei Frauen auf dem Boden. Auch hier entschuldige ich mich für mein Missgeschick. Die Eine malt mir mit Asche ein Bindi auf die Stirn und sagt, dass jetzt alles wieder gut ist. Nur Geld soll ich bitte noch dalassen, womit das Feuerholz bezahlt wird für die Armen, die sich das selbst nicht leisten können. Ich bezweifle, dass mein Geld irgendeinem Armen zugute kommt, aber der Typ lässt mich nicht aus den Augen. Wie auf einem Bazaar handele ich mit ihm und den Frauen. Letztendlich muss ich 2000 Rupees bezahlen, damit der Typ mich gehen lässt, knapp 25 Euro. Auf dem Weg aus dem Haus zittere ich noch leicht. Das Letzte, was ich will, ist ein indisches Gefängnis von innen zu sehen! Kaum außer Sichtweite lösche ich das Foto, das mich in diese Lage gebracht hat. Ein Stück weiter weg googele ich ein bißchen und finde schnell heraus, dass ich gerade in eine der Haupt-Touristenfallen von Varanasi getappt bin. Fotos sind in Varanasi laut Gesetz nicht mal unrecht, besonders nicht aus dieser Entfernung. Nichtsdestotrotz teilen diese Typen offenbar Schläge aus, wenn man nicht spurt, und nehmen einem dann auch oft noch die Kamera weg.

Kein guter Beginn für meine vier Tage in jener Stadt, auf die ich mich am Meisten gefreut habe. Kann man wirklich nicht sagen.

Gebäude in Varanasi
Irgendwo am Flussufer

Ich laufe weiter den Fluss entlang und werde wieder von allen Seiten belästigt. Doch als die Touristen weniger werden, erlebe ich wieder die unnachahmliche Herzlichkeit der Inder. Eine Weile lang schaue ich auf eines Jungen Bitten einer Horde Kinder beim Cricketspielen zu. Ein paar Meter weiter realisiere ich einen Moment zu spät, dass das Flussufer hier wohl als öffentliche Toilette dient. Ich stehe mitten drin. Die Contenance wahrend, drehe ich wieder um.

Auf dem Weg zurück setze ich mich für eine Weile zu einer Gruppe Leute, die einen Hang-Spieler umringt.

Schon seit Jahren bin ich fasziniert von den Klängen dieses seltenen Instruments. Hier jedenfalls, ans Ufer des Ganges, passt sein fast mystischer Sound perfekt hin. Das sehen nicht nur die Touristen so, sondern offenbar auch die Inder. Selbst die stressigen Verkäufer halten in der Umgebung des Musikers endlich mal ihre Backen.

Zurück im unglaublich geschäftigen Zentrum von Varanasi gönne ich mir eine Süßigkeit in einem der vielen Läden für Süßes und Klebriges. Der Ball in Sirup, ein Galub Jamun, ist köstlich und ich lasse meine Umwelt kurz außer Acht. Doch ein Hauch einer Berührung am Arm lässt meine Hand zu meiner Hosentasche wandern. Und tatsächlich ist ein etwa zehn Jahre alter Junge gerade im Begriff, mir in Zeitlupe das iphone aus der Tasche zu ziehen. Als er merkt, dass er ertappt ist, erstarrt sein kleiner Körper. Mit zittriger Stimme bestellt auch er eine Süßigkeit, um den Schein zu wahren. Nur er und ich haben den Vorfall mitbekommen.

Menschen und kleine Statuen in einer Gasse von Varanasi
In den engen Gassen Varanasis

Sein Schicksal ist nun in meiner Hand. Wenn ich ihn zur Touristenpolizei schleife, wird er seines Lebens nicht mehr froh. Er weiß das, ich weiß das. Ich entscheide mich schließlich dagegen, da ich denke, dass er die Lektion durch den Schock auch so verstehen wird. Ich versuche ihm noch einmal mit ruhiger Stimme klarzumachen, dass mir sehr wohl bewusst ist, was gerade passiert ist. In seinem Gesicht jedoch steht nichts als Angst geschrieben. Dann drehe ich mich auf dem Absatz um und überlege, ob ich Varanasi nicht vielleicht sofort wieder verlassen sollte.

Ein Regenguss überrascht mich auf dem Weg durch den katastrophalen Verkehr auf der Hauptstraße, an deren Rändern mit Hilfe von krummen Holzstangen eine Art Gehweg simuliert wird, den niemand respektiert. Ich renne in die nächstbeste Gasse und suche Unterschlupf im Dosa Cafe. Nett hier. Und endlich sind die Menschen auch wieder freundlich. Doch seit Wochen geht es mir in diesem Land so: In einer Minute bin ich zu Tränen gerührt von der Freundlichkeit der Einheimischen, in der nächsten möchte ich am Liebsten jemanden erhängen. Eine konstante Achterbahnfahrt der Gefühle, die einen abends völlig ausgelaugt und erschöpft zurücklässt. Doch Varanasi weiß das bisher tatsächlich noch um Längen zu toppen.

Menschen vor einem Gebäude am Ufer des Ganges
Varanasi lässt Dich nicht unberührt – Versprochen!

Im Cafe spreche ich mit einem freundlichen älteren Mann. Er sagt, alles habe sich in den letzten Jahren zum Schlechteren verändert. Die einzige Sache, die den Einheimischen in Varanasi heute noch heilig sei, sei das Geld. Früher sei man offen und freundlich miteinander umgegangen, heute stehe jeder in Konkurrenz zueinander. Doch auch die Touristen hätten sich verändert. Früher habe man hier nur interessierte Menschen gesehen, die mit beiden Beinen auf dem Boden standen. „Today everyone is floating around like a small boat on the Ganges, more busy on their phones than in the actual moment.“ Der Mann wird mir immer sympathischer.

Ich esse ein sehr leckeres Wada, einen scharfen Gebäckkringel mit Kokos-Chutney, und trinke dazu einen Chai. Nun wieder einigermaßen gut gelaunt, zeige ich dem Mann das Foto einer Kuh, das ich vor ein paar Stunden geschossen habe. Er erzählt mir, dass eine bestimmte Kuh jeden Tag zwei Mal zum Essen ins Cafe kommt. Immer zu denselben Zeiten steckt sie den Kopf durch die Tür und bekommt ein Dosa, eine Art Pfannkuchen, überreicht. Obwohl keiner weiß, wo sich die Kuh den restlichen Tag über herumtreibt, kann man nach ihren Besuchen die Uhr stellen. Indien. Wegen dieser Momente kommt man hierher.

Kuh vor einem handgemalten Schild in Varanasi
Mein Kuh-Foto, das die ganze Unterhaltung ausgelöst hat

Dann berichtet er von sieben sehr besonderen Kühen, die Namen von Gottheiten tragen, ungewöhnlich gepflegt sind und bei einem Arzt im Hof wohnen. Ja, sie hören offenbar sogar auf ihre Namen. Die Neugierde siegt, ich laufe dem netten Mann durch den nachlassenden Regen hinterher. Und tatsächlich: Nach nur wenigen hundert Metern öffnet sich eine hölzerne Tür. In einem unglaublich rauchigen Hof stehen und fressen die sieben wirklich außergewöhnlich hübschen Geschöpfe. Kühe, wie ich sie bisher im ganzen Land noch nicht gesehen habe. Ich komme mir vor, als habe die Tür in eine Art Wunderland geführt. Indien. Wegen dieser… Ah, Momentchen, hatte ich schon.

Dann stellt sich heraus, dass der Arzt, der diese Kühe so stattlich aussehen lässt, ein Aroma-Therapeut ist. In einer winzigen Kammer voller Glasflacons und bei einem unglaublich leckeren Masala Chai erklärt er mir in meditativer Ruhe die Vorzüge der einzelnen Öle, die seine Familie selbst aus ayurvedischen Kräutern destilliert. Da meine Haut noch immer nicht besser ist und ich mittlerweile wirklich alles ausprobiert habe, bitte ich ihn um Rat. Als ich gerade erzählen will, welche Therapien ich bereits getestet habe, sagt er schroff „I don’t know what you have done and, quite frankly, I have no interest whatsoever.“ Stattdessen hält er mir eine Flasche vor die Nase und erklärt mir, wie viele Tropfen am Tag ich davon nehmen muss. Sandelholzöl. Einen Versuch ist es wert. Vielleicht hat der Besuch Varanasis am Ende doch noch seinen Sinn. Für den Moment versöhnt wohne ich der Feuerzeremonie am Ufer bei und gehe dann erst mal schlafen.

Menschen bei der Feuerzeremonie am Ufer des Ganges
Feuerzeremonie am Ufer des Ganges

Anmerkung: Wie Ihr wahrscheinlich festgestellt habt, haben alle Fotos im Artikel Instagram-Filter durchlaufen. Es muss an den unwirklichen Ereignissen meiner Indien-Reise liegen, dass ich bei den Filtern ein bißchen über die Stränge geschlagen habe….

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29 Kommentare

    • Ich habe lange gehadert, da der Artikel wirklich kein nettes Bild von Varanasi zeichnet. Aber so ist es eben manchmal. Ein Anderer war vielleicht einen Tag später da und hat nur Gutes erlebt…

    • Hi Marco, super spannender Artikel, vielen Dank!
      Wenn man sich tatsächlich entschließt in das Curry aus Gerüchen, Absurditäten und Herausforderungen jeglicher Art einzutauchen, für wie lange würdest du das ansetzen (im Rahmen einer 3-wöchigen Urlaubsreise)?
      Ganz lieben Dank
      Anna

  • Hallo Marco,
    witzigerweise sitze ich auch seit Wochen an meinem Artikel über den „Varanasi Wahnsinn“ und komme nicht so richtig weiter. Es ist nicht leicht seine Gefühlsachterbahn in diesem Ort auf dem Punkt zu bringen. Ich schwankte ständig zwischen Abscheu und totaler Faszination …
    Danke für deine Einsichten!
    Eva

    • Hi Eva, genau so ging es mir auch. Ich brauchte erst mal ein paar Wochen Abstand, bevor ich den Artikel raushauen konnte… Ich würde vermutlich nicht wieder hinfahren. Trotz allem bin ich aber froh, dass ich da gewesen bin!

  • Hallo Marco! Sehr lebendig geschrieben. Mir ging es in Ägypten ganz ähnlich. Aber Indien toppt das nochmal um Längen, so wie es klingt. Danke für die Story und bis bald! LG, Peter

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  • Marco, ein dickes Dankeschön für deinen Bericht über Varanasi. Zur Zeit sauge ich alle Indientexte und -fotos von dir förmlich auf. Indien ist im kommenden November das nächste Reiseziel und deine Beschreibungen und Eindrücke geben genau das wieder, wie ich mir Indien vorstelle. Das Land der krassen Gegensätze; nerviges Angequatsche vs. herzliche Gastfreundschaft, Müllberge vs. bezaubernde Landschaften, wiederwärtigste Gerüche vz. betörende Düfte…

    Mach weiter so, ich mag deine Berichte sehr und auch die per Instagram bearbeiteten Bilder.

    • Vielen Dank, Ricarda! Es ist immer schön zu hören, dass sich auch jemand für das interessiert, was man so von sich gibt! ;-) Viele Grüße, Marco

  • Einmal mehr ein wirklich toller Bericht! Dank dir dafür Marco. Nebenbei bemerkt: Ich war von Varanesi ebenfalls etwas enttäuscht, allerdings aus dem gegenteiligen Grund: Ich hatte all diese Horrorgeschichten schon gehört und war auf ein wahrlich abstruses Abenteuer gefasst. Was ich am Ende erlebt habe, war eine freundliche Stadt mit einem gut ausgebauten touristischen Angebot. Varanasi hat mich – und das war wirklich sehr überraschend – kaum berührt. Das mag natürlich daran liegen, dass Varanasi das letzte Ziel auf einer dreimonatigen Indienreise war und ich all diese Geschichten, die du erzählst, schon in anderen Städten erlebte und entsprechend abgebrüht war. Aber ich fand Varanasi bei weitem nicht so schlimm, wie andere indisische Städte. Fazit: Ich glaube, wie man einen Ort erlebt, das hängt sehr stark von der Erwartungshaltung ab.

    • Hey Olli, danke für Dein Lob! Und an Deinem Fazit ist was dran. Aber ich hatte meine Erwartungen ganz schön runtergeschraubt. Wie man einen Ort erlebt hängt auch sehr von der eigenen Verfassung ab. Und nicht zuletzt vom Glück. Wäre ich ne Woche später da gewesen, dann hätte ich das Ganze eventuell total anders erlebt. Jedenfalls hilft es bei Varanasi sicher, Indien vorher schon länger erlebt zu haben!

      • Das stimmt und wird so oft vergessen, wenn wir mit ach so viel Objektivität unsere Reisetipps geben: Zu den entscheidenden Faktoren, ob uns ein Ort gefällt, gehören zu einem überwiegenden Teil nicht objektivierbare Parameter wie das Wetter, die Begegnungen, der eigene Gesundheits- und Gemütszustand. Mit netten Menschen, angenehmem Wetter und ohne Magenbeschwerden lässt sich auch über die hässlichste Stadt ein gutes Wortes finden. Wobei ich sagen muss, dass das, was du hier beschreibst, für mich schon recht typisch für Indien ist.

        Am Rande bemerkt: Die Bilder von den brennenden Leichen habe ich von einem gemieteten Boot aus gemacht. Der Fahrer meinte dann auch, dass er mich eigentlich der Polizei melden müsste. Ich meinte dann aber, dass es für sein Geschäft als Fährmann bestimmt nicht gut sei, wenn ich mein ganzes Geld für die Polizeibusse ausgebe und für die Bezahlung seiner Dienstleistung nichts mehr übrigbleibt. Er meinte dann bloss noch, dass ich das Bild löschen müsse. Ich hab dann eines von mehreren gelöscht und die Sache war gegessen – leider sind die Fotos ohnehin nicht gut geworden.

  • Hallo
    Gerade habe ich drei deiner Indienartikel gelesen. Ich war letztes Jahr selbst 5 Wochen in Indien. Mich hat dieses Land mit dem ganzen Chaos ansolut in seinen Bann gezogen. In Varanasi war ich ebenfalls 3 Tage. Ich muss sagen, für mich war das eines der Highlights meiner Reise. Ich hatte es mir im Vorherein viel schmutziger und mit viel übleren Gerüchen vorgestellt als es dann am Schluss war. Ich fand es nicht viel extremer als andere indische Städte. Aber vielleicht ist dies ja auch nicht immer gleich?
    Auf jeden Fall musste ich bei einigen deiner Aussage in den Artikel schmunzeln. Viele Sache würde ich genau gleich beschreiben.
    Liebe Grüsse Melanie

    • Hi Melanie,
      das geht mir genauso. Indien ist eine wahre Hassliebe für mich. Aber definitiv das schrägste Land, das ich bisher gesehen habe. Lässt man sich drauf ein, kann man hier echt eine Menge erleben.
      Liebe Grüße zurück!
      Marco

    • Hey Melanie,

      Ich empfand es genau wie du. Ich war nun 2 mal in Indien und mich hat es ebenso total in seinen Bann gezogen, faszinierend und völlig verrückt. Über Varanasi habe ich einen Film gedreht und falls du/Ihr
      Lust habt hier der Link: https://vimeo.com/242242201
      Varanasi hat mich am meisten begeistert und ich habe vorher ebenso viel darüber gelesen und war somit vorbereitet. absolut verrückt und ich hoffe eines Tages zurück zu kehren :-)
      LG Stefan

  • hallo Marco, danke für den Bericht… sehr anschaulich… Du schreibst das Kräuter den Verbrennungsgeruch von Leichen mindert. Beim Zahnarzt wurde mir einmal mein Zahnfleisch abgekockelt… dieser geruch war ein massiver Schock für mich … erkennt unser Unterbewußtsein nicht wenn Menschnfleisch brennt? Freue mich über Deine Beschreibung des Geruches … ich bin rund, weißharig und Mitte 50… kann ich a alleine hinfahren? Beste Grüße, Ilse PS werde auch auf der ITB sein…

    • Hi Ilse und danke für Dein Lob!
      Tatsächlich hatte ich auch mit dem Schlimmsten gerechnet, was die Gerüche in Varanasi angeht. Doch während meiner gesamten Zeit vor Ort bekam ich immer nur eine Ahnung des Geruchs von brennendem Fleisch. Wofür ich sehr dankbar war!
      Klar, da kannst Du auch alleine hin.
      Viele Grüße und bis zur ITB,
      Marco

  • Hallo Marco,
    ich reise im November zum ersten Mal nach Indien mit meiner Freundin. Sie selber war bereits zweimal dort und ist ein Fan Indiens geworden. Für mich wird es meine allererste Fernreise. Ich habe daher ein wenig Bedenken in Bezug auf die mentale Belastung die aufgrund der Unterschiedlichkeit zu meinem gewohnten Umfeld. Wir werden von Delhi über Agra, nach Varanasi, Hampi bis schließlich zum entspannen bis nach Goa reisen. Hast du Tipps, wie man sich darauf vorbereiten bzw. einstellen kann?

    LG Basti

    • Hey Basti,
      tatsächlich ging auch meine erste Fernreise direkt nach Indien! Und ja, es war eine ganz schöne Umstellung, denn Indien beschäftigt permanent alle Sinne.
      Es ist ja tatsächlich so, dass man dieses Land entweder liebt oder hasst, es gibt nur wenige, die mit ihren Gefühlen irgendwo dazwischen liegen.
      Ich würde Dir empfehlen, so neutral wie möglich zu bleiben. Lass Dich auf den Wahnsinn ein und Du wirst mit Sicherheit belohnt werden! Wenn alles zu viel wird, suchst Du Dir einfach eine ruhige Ecke und meditierst ein wenig. Oder setzt Dich zu ein paar alten Indern und trinkst süßen Milchtee für die Nerven!
      Eure Reiseroute jedenfalls ist so, dass das Härteste (Delhi) gleich zu Anfang kommt. Das ist gar nicht so schlecht, denn dann weisst Du stets, dass es eigentlich nur bergauf gehen kann! ;-)
      Ruhig Blut, Basti, bestimmt gefällt es Dir in Indien sehr gut. Ein letzter Tipp: Versuch ein wenig von der Spiritualität zu verstehen, die in Indien allgegenwärtig ist. Das lässt auch alles Andere leichter ertragen.
      Ganz viel Spaß und intensive Eindrücke!
      Marco

  • Krasser Bericht, schön klingt das wirklich nicht gerade. Beim Durchlesen wollte ich (zumindest an den meisten Stellen) nicht unbedingt mit dir tauschen.

    Trotzdem bist du jetzt um eine irre Erfahrung reicher. Ich finde darum geht es beim Reisen auch immer: auch wenn man es im Moment der Reise anstrengend fand- irgendwie ist man aber rückblickend immer doch froh es gemacht zu haben. Manchmal bei solchen extremen Sachen sogar mehr als wenn alles total reibungslos abläuft.

    Gruß und alles Gute

    • Ganz genau so ist es, Stefan! Und bei mir kommt dann irgendwann der Punkt, wo ich denke: Wow, das läuft jetzt gerade alles dermaßen schief… könnte eine gute Geschichte werden! ;-)
      Liebe Grüße und weiterhin gute Reise!
      Marco

  • Sehr ausführlich und anschaulich geschrieben, in vielem kann ich mich wieder finden. Ich würde nie wieder hin, bin aber dankbar für die Erfahrungen dort. Danke für diesen Bericht!!!

  • Wer Indien kennenlernen möchte, braucht eigentlich nur nach Varanasi reisen.
    Hier kommt ganz Indien zusammen (zumindest alle Hindus).
    Nach 20 mal Indien (alles zusammen über 5 Jahre) war ich doch noch sehr berührt.
    Am Flussufer, wo dann die Asche und die Reste der Verbrennung rein gefegt werden, sind immer mehrer Jungs am tauchen, um viell. noch etwas Gold von den Goldzähnen zu finden.
    Die Locals sind nicht unbedingt begeistert davon.

    Schöner Reisebericht, gut beobachtet.

    Namaste

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