Teil 3 meiner Eindrücke während meiner Tage als freiwilliger Helfer nach dem Tsunami 2004.
Der Samstag Abend endet mit einem Telefongespräch, das ich mit dem ZDF führe. Auch dieser Sender möchte nun einen Bericht über mich machen. Langsam beginne ich mich zu fragen, ob ich der einzige Deutsche im ganzen Land bin.
Jeden Morgen lässt sich im Hilfszentrum die Veränderung der Dynamik deutlich beobachten. Am Sonntag scheinen die Helikopter, die seit Beginn der Hilfsaktionen auf dem angrenzenden Fussballfeld ohne Unterlass gelandet sind, zum ersten mal für längere Zeit still zu stehen. Wieder hat sich die Zusammensetzung der Menschen verändert, die auf dem Gelände des Rathauses gehetzt hin- und herlaufen. Man sieht jetzt mehr Männer in Uniformen, Militär, Polizei, sowie technische Hilfsdienste aus verschiedenen Ländern. Einige der Essensstände sind bereits abgebaut, selbst der Vorrat an Trinkwasser neigt sich dem Ende entgegen. Sogar mich als Nicht-Betroffenen durchfährt ein Schauer, als ich sehe, dass die Tafeln mit den Fotos der Vermissten des Tsunami 2004 entfernt worden sind. Das wirkt auf mich wie ein drastisches Eingeständnis dessen, was in den letzten Tagen immer offensichtlicher geworden ist. Kurz später sehe ich jedoch, dass man die Tafeln lediglich an einen überdachten Ort gebracht hat, da es in der Nacht zuvor geregnet hat.
Drei Leute vom ZDF interviewen mich. Sie schiessen ähnliche Aufnahmen wie zwei Tage zuvor der HR. Daraufhin gehe ich zum Stand der ausländischen Helfer, muss allerdings erfahren, dass es im Moment nichts zu tun gibt. Ich bekomme einen Zettel in die Hand gedrückt, der mir erklärt, dass es freiwilligen Helfern – Ausländern wie Thais – ab sofort untersagt ist, mit Leichen zu arbeiten. Wenn ich es richtig verstehe, fürchtet man um unsere Gesundheit und lässt nun ausschliesslich Polizei und Militär diese Aufgaben erledigen.
Am Zelt der Schweden treffe ich Max und Nishan, meine Weggefährten der letzten Tage. Im Zelt nebenan, das die Koordinierungsstelle für Vermisste beherbergt, hat sich einiges getan. An jedem Tisch stehen nun Laptops, Telefone und grosse Ordner. Eine Menge Leute verschiedener Herkunft schwirrt rastlos umher.
Die Schweden scheinen mehr helfen zu wollen als alle anderen, was angesichts der Opferzahl unter ihren Landsleuten verständlich ist. Ein Privatmann hat Tausende schwedische Kronen in der thailändischen Währung Baht in seiner Geldbörse, und händigt jedem, der Geld braucht, ein Bündel Scheine gegen eine Quittung aus. Alles, was er verlangt, sind Fotos, die die sinnvolle Verwendung des Geldes dokumentieren. Tags zuvor sind 40 Pakete mit brandneuen schwedischen Markenklamotten angekommen. Die Verteilung dieser an Opfer des Tsunami 2004 ist das Hauptziel für heute und wir haben uns bereiterklärt, dabei zu helfen. Da alle Schweden bereits das Land verlassen haben, will man sich nun ausschliesslich auf die Versorgung der einheimischen Opfer konzentrieren.
Nach langem Warten aufgrund logistischer und organisatorischer Probleme beginnen wir, einen Pickup mit Tüten voller Lebensmittel und anderer nützlicher Gegenstände zu beladen. Zuvor haben wir an der Sammelstation einen Bogen ausfüllen müssen, woraufhin man uns die fertig gepackten Tüten aushändigte. Zu guter Letzt laden wir noch zwei große Säcke Medikamente auf. Die Kamera verfolgt jeden meiner Schritte.
Auf der Pritsche fahren wir mehrere Stunden Richtung Norden, das Ziel ist ein kleiner Ort, der angeblich noch nicht viel von der Hilfe gesehen hat. Einer der Schweden ist mit einer Thailänderin verheiratet, die ihm von diesem Ort erzählt hat. Unterwegs halten wir an verschiedenen Sammelstationen. Große Berge Klamotten sind umrahmt von Kisten mit Lebensmitteln. Niemand scheint die Hilfe jedoch in Anspruch zu nehmen; abgesehen von der Anwesenheit der dort Arbeitenden wirken die Lager ausserordentlich verlassen.
Kurz vor Khao Lak staut sich der Verkehr. Unter die Armee-LKW und die Fahrzeuge von Hilfsorganisationen hat sich eine Menge Thais gemischt, die ganz offensichtlich lediglich die Zerstörung des Tsunami 2004 mit eigenen Augen begutachten wollen.
Und dann tauchen die Strände von Khao Lak auf, die ich bisher noch nicht gesehen habe. Ich kann nun verstehen, wie die Zahl der Opfer diese astronomischen Höhen erreichen kann. Noch fast einen Kilometer vom Wasser sind die Häuser bis über das Erdgeschoß hinaus zerstört. Autos und sogar LKW liegen deformiert im Schlamm, manche sind auf die Seite oder das Dach geschleudert worden. Es herrscht Hochbetrieb. Bagger schaufeln den Schlamm zwischen den Häusern weg. Elektriker versuchen, die stark mitgenommenen Telefonmasten wiederherzustellen. Auf den Straßen wird Wasser versprüht, um den Staub zu mindern. Privatleute tragen ihre zu Müll gewordenen Habseligkeiten auf große Haufen, die zum Teil in Brand gesetzt worden sind und dicke Rauchschwaden über die gespenstische Szenerie schicken. Während wir nur langsam vorwärts kommen, sehe ich am Strassenrand die Namen aller Resorts, die ich in den letzten Tagen am Telefon gehört habe. Es jagt mir einen Schauer über den Rücken.
Schließlich kommen wir in Ban Nam Khem an. Man verweigert uns zu unser aller Verblüffung die Einfahrt, und so laden wir alle Lebensmittel auf ein anderes Fahrzeug, bevor wir die Medikamente zu Fuss ins Dorf tragen. Ich erfahre von einem Journalisten, dass dieser kleine Fischerort erst seit zwei Tagen überhaupt Hilfe erhält. Offenbar ist es hier gewesen, wo man erst tags zuvor noch Hunderte Leichen gefunden hat. Ein weiteres Mal frage ich mich, inwieweit die Vorwürfe verschiedener Journalisten wahr sind, es handele sich hier um eine Zwei-Klassen-Hilfe, intensiv und schnell für Touristen, unzureichend und reichlich verspätet für die Einheimischen.
Wir tragen nun Schutzmasken, denn der Gestank nimmt stetig zu. Und plötzlich passieren wir völlig unvorbereitet die Reste der Polizeistation, neben der man die an diesem Tag gefundenen Leichen an den Straßenrand gelegt hat. Es scheint eine ganze Familie zu sein, zwei Erwachsene und vier oder fünf Kinder, darunter zwei Säuglinge. Wir pressen uns unsere Masken ins Gesicht, und zwingen uns, in die entgegengesetzte Richtung zu schauen. Keiner von uns hat noch mehr tote Menschen sehen wollen.
Ban Nam Khem sieht aus wie nach einer Bombenexplosion. Kein Stein sitzt mehr auf dem anderen. Fischerboote von beachtlicher Größe sind vom Tsunami 2004 in die Häuser geworfen worden wie Spielzeug und liegen dort noch immer. Vor den Häusern türmen sich die traurigen Überreste der Besitztümer der Menschen, als hätten diese fensterlosen Mauerreste alles voller Ekel ausgespieen. Grosse Seen aus Schlamm, aus denen hier und dort Trümmer herausragen, liegen still und stinkend zwischen den Ruinen. Die Menschen wissen gar nicht, wo sie anfangen sollen. Zudem müssen sie sich durch Unmengen von Leuten kämpfen, die im Weg stehen und gebannt auf die Verwüstung starren.
Und doch braucht man unsere Lebensmittel hier nicht. Alle Verletzten des Tsunami 2004 sind offenbar bereits geflohen oder evakuiert worden. Da man nicht einmal weiss, wie viele Menschen hier vor der Katastrophe gelebt haben, lässt sich über Opferzahlen ohnehin nur spekulieren.
Mit einer Fähre, die von einem völlig verwüsteten Steg ablegt, fahren wir die 300 Meter zur Golden Island, da man uns sagt, man benötige unsere Hilfe eventuell dort. Doch im Grunde weiß niemand etwas Genaues. Zudem gibt es keine Hierarchien, die eine organisierte Hilfe möglich machen. Diesen Eindruck habe ich bereits am Morgen in Phuket gehabt. Und so müssen wir auch hier unverrichteter Dinge abziehen. Alle sind erschöpft und frustriert; es scheint alles verschwendete Zeit gewesen zu sein. Auch die holländischen und französischen Krankenschwestern, die aus Bangkok angereist und mit einem anderen schwedischen Pickup hierher gekommen sind, fühlen sich fast fehl am Platze.
Wir finden schliesslich noch eine Sammelstelle für die Lebensmittel, an der sich jedoch dasselbe Bild bietet wie an den vorigen. Daraufhin bringen wir die Medikamente in ein örtliches Krankenhaus, wofür wir zumindest mit vielen lächelnden Gesichtern, freundlichem Händeschütteln und aufgeregten Worten in Thai belohnt werden. Dann treten wir unseren Rückweg nach Phuket an; inzwischen sind wir schon neun Stunden unterwegs. Alle sind körperlich und moralisch völlig am Ende und dösen im kalten Fahrtwind auf der Pritsche vor sich hin.
Nishan, Max und ich beschliessen, eine Nacht komplett auszuschlafen. Ich kann den Beiden ansehen, dass sie das genauso nötig haben wie ich.
Gestern Nachmittag fahren wir zurück ins Hilfszentrum. Mehr denn je scheinen nun viel zu viele Helfer vor Ort zu sein. Hinzu kommt, dass jeder auf eine gewisse Art versucht, am meisten zu tun und sich anstrengt, die Entscheidungen an sich zu reißen. So wird die Koordination immer schwieriger. Zudem werden mittlerweile Spezialisten mehr als alle Anderen gebraucht, insbesondere Bauarbeiter für die Wiederherstellung der Gebäude und Straßen.
Die thailändische Verwaltung reagiert auf die chaotischen Verhältnisse unter den Freiwilligen und gibt bekannt, dass sie den Helfern danke, ihre Hilfe aber erst einmal nicht mehr benötige. Zudem lässt sie verlauten, dass alle Überlebenden des Tsunami 2004 mittlerweile ausreichend versorgt seien. Man solle sich und seine Fähigkeiten auf Listen eintragen, bei Bedarf komme man auf den einen oder anderen zurück.
Vor dem Gelände des Rathauses hat ein thailändischer Künstler verschiedene Grafiken zu Erdbeben und Plattenbewegungen mit Wasserfarben in anschauliche Kunstwerke verwandelt. Er hat jedoch kein Interesse an deren Verkauf. Sein Ziel ist es, die Thais aufzuklären über das, was letzte Woche passiert ist. Viele haben das noch immer nicht im Ansatz verstanden, was den Schrecken natürlich noch deutlich intensiviert. Ich sage ihm, dass ich die Idee toll finde.
Max wird nach einem weiteren Tag am Stand der Schweden nach Malaysia weiterziehen. Nishan hat unerwartet einen Job als Hilfslehrer bekommen – in eben jenem Internat, das uns in den letzten Tagen als Asyl gedient hat, denn alle vorigen Hilfslehrer haben das Weite gesucht.
Mich hat man nach einem weiteren Interview für das ZDF-Morgenmagazin nun kostenlos in einer Militärmaschine für Helfer und Journalisen nach Bangkok geflogen. Die aufgestellten Betten und Ärztestationen im Flughafen stehen mittlerweile leer. Die Thais versuchen jedoch noch immer alles Erdenkliche, den Abreisenden einen guten letzten Eindruck zu hinterlassen, und servieren ungefragt Essen und Getränke mit einem Lächeln.
Ich warte nun auf einen Nachtzug nach Chiangmai im Norden Thailands, wo ich mich etwas ausruhen möchte. Nach wie vor bin ich froh, hergekommen zu sein. Aber die Eindrücke und der Schlafmangel zollen ihren Tribut.
Solltet Ihr die Möglichkeit haben zu spenden, bitte ich Euch hiermit, das zu tun. Nachdem ich die Verhältnisse hier gesehen habe, kann ich mir nur vorstellen, wie schlimm es erst in Sri Lanka oder Indonesien sein muss.
Wenn mir diese Katastrophe eines gezeigt hat, dann ist es, wie schnell alles vorbei sein kann. So kitschig es klingen mag: Tut alles, was Ihr macht, mit Leidenschaft, und folgt Euren Herzen!
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