Die Kassette aus Goa Indien – anders als gedacht!

Vorbei, die Zeiten spektakulärer Sonnenuntergänge

„Goa Trance?“, fragte ich zweifelnd und wedelte mit der Kassette vor dem Gesicht meines japanischen Reisepartners herum. Eijiro nickte heftig. Wir schrieben das Jahr 1999 und ich war schon damals verblüfft, dass dieser Musikstil noch immer existierte. Natürlich musste man dabei wohl eines berücksichtigen: Wir befanden uns in Goa, Indien, seines Zeichens Party-Hochburg und natürlich der Geburtsort jener elektronischen Spielart gleichen Namens. Da machte das Ganze dann schon mehr Sinn.

Da wir uns zudem auch noch an einem der berüchtigtsten Orte des kleinen Bundesstaates Goa an Indiens Westküste herumtrieben, dem Publikumsmagneten Anjuna Flea Market mit all seinen Nippes verkaufenden Hippies, leuchtete es mir nach kurzer Überlegung auch plötzlich ein, warum ich diese Kassette mit der Aufschrift ‚Full Moon Party Goa‘ tatsächlich jetzt und hier kaufen musste.

Menschen auf dem Anjuna Flea Market in Goa Indien
Anjuna Flea Market, 1999

„Original vibe, man. No bullshit. Best DJs from around the world. Epic night.“, raunte mir der augenscheinlich bekiffte Verkäufer leidenschaftslos zu, um meine letzten Zweifel aus dem Weg zu räumen. Abwesend drehte er dabei an einer seiner Dreadlocks, die ihm offenbar momentan eine Spur zu ordentlich aussah. Wie vielen Westlern hier sah man auch ihm an, dass er Goa Indien bereits seit Jahren sein Zuhause nannte. Die erbaulichen Effekte dieser Art des Aussteigens: Ein nahtlos gebräunter und schlanker Körper sowie von der Sonne gebleichte, wilde Haare. Die schlechten Effekte: Ein meist resignierter Gesichtsausdruck, ein Zahnbild, das jedem Zahnarzt nichts als ein Seufzen abgerungen hätte, sowie ein Paar völlig zerstörter Augen, die von einer eindrucksvollen Historie an Substanzen-Missbrauch zeugten. Die Effekte, über deren Bewertung ich noch immer unschlüssig war: Batik-Klamotten, Birkenstock-Sandalen und Rasseln an den Fussknöcheln.

Brillenverkäufer in Goa, Indien
Anders schräg: Ein einheimischer Geschäftsmann

Kurzentschlossen schlug ich zu und kaufte dieses Zeugnis elektronischer Musikgeschichte. Auch wenn der stoische Typ nicht mal einen einzigen wertlosen Rupee vom stolzen Preis von umgerechnet etwa 6 DM herunterging. Doch wann, wenn überhaupt, würde ich schon mal wieder nach Goa kommen? Und offenbar hatten ja hunderte von Partyjüngern einst am Strand zu der Musik auf dieser Kassette getanzt – so schlecht konnte das Ganze nun auch wieder nicht sein. Ich liess das schon damals veraltete Speichermedium zu den anderen soeben erstandenen Dingen in meine Umhängetasche gleiten: Räucherstäbchen, ein Vintage-Hemd, eine Handvoll bunter Gewürze, eine indische Schalmei und eine ganze Sammlung von kleinen Statuen meines Lieblingsgottes Ganesha. Eijiro klopfte mir wohlwollend auf die Schulter und sagte, was er in schönen Momenten immer sagte: „Good.“ Ohne jede Betonung. Er selbst hatte bereits drei Kassetten mit jener Musik erstanden, für die diese Gegend hier weltbekannt war. Ihm war jedoch wie auch mir klar, dass wir die Kassetten erst in unseren Heimatländern hören konnten. Er, ich und die anderen vier unserer Gang hatten alle nur Minidisc-Geräte mit auf die Reise gebracht.

Japanischer Mann lächelt über seinem Tagebuch
Eijiro, 1999

Goa Trance war ein Phänomen, das Anfang der 80er aus dem harten Kern jener Freaks entstanden war, die einfach nach dem Ende der goldenen Hippie-Ära in Goa geblieben waren. Ich mochte die Idee, elektronische Musik mit Weltmusik-Einflüssen zu vermischen und auch der psychedelischen Deko bei den damals noch überall zelebrierten Goa-Parties konnte ich einiges abgewinnen. Was mir die Musik jedoch immer wieder vergällte, war ihre Monotonie, die man vermutlich nur mit der Unterstützung chemischer Präparate ertragen konnte. Vor allem aber hatte ich Probleme mit dem Tempo von Goa Trance: Halsbrecherische 150 BPM (Beats per minute) waren keine Seltenheit – ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wie ich dazu tanzen sollte…

Meine Liebe zu Techno war ganz klar von den Akteuren der Frankfurter Szene um das Omen und das Dorian Gray geprägt; dieser komplette Neuanfang in der Musik Anfang der 90er hatte mich seit den ersten Tagen komplett in seinen Bann geschlagen. In Hessen hatte man es damals leicht, musikalisch am Ball zu bleiben. Unter dem schmissigen Namen ‚Clubnight‘, bei dem Eingeweihte noch heute feuchte Augen bekommen, sendete der hessische Rundfunk jeden Samstagabend einen dreistündigen Live-Mix der jeweils angesagtesten DJs zur Prime Time. Meine Freunde und ich hatten jeden Samstag bereits um fünf vor 9 den Finger auf der Pausetaste unserer Tape-Decks! Sven Väth, DJ Dag, Paul & Paul, Torsten Fenslau, … Ich kenne Leute, die noch heute jede einzelne Ausgabe der Mix-Show mit selbstbeschrifteter Hülle im Regal stehen haben.

Doch all diese Musik lief damals etwa auf 120 BPM. Das war deutlich eher mein Tempo. Daher kribbelte es mit der wöchentlichen Ansage „Hier ist der Hessische Rundfunk mit der HR3 Clubnight“ und den im Hintergrund bereits anlaufenden Beats auch jedes mal bereits wohlig in meinen Gehörgängen.

Clubnight-Kassetten in einem Kassettenregal
Blick ins Regal – Ich nenne nur eine Auswahl von Clubnight-Aufnahmen mein eigen.

Eijiro, ich und der Rest unserer illustren Bande streiften noch eine Weile auf dem in allen Farben strahlenden Flohmarkt herum und assen ein paar schmackhafte Samosas, dann ging es mit unseren Mopeds zurück an den Strand, zurück in die Hängematten, zurück zum großen, in Zeitungspapier eingewickelten Paket Gras.

Hund neben einem Baum auf einem Felsen vor Meer in Goa Indien
Dieser Hund weiß Bescheid.

Neben dem verrückten japanischen Küken der Gruppe Eijiro, den wir im Süden aus einer misslichen Situation gerettet hatten, gab es da noch meinen Mitbewohner Daniel, der mit einem Diktiergerät rund um die Uhr schräge Sounds für seine neueste Produktion einfing, den kanadischen Eiskockeyspieler Rennie, der sich vor ein paar Wochen über die burmesische Grenze geschmuggelt hatte und nach ein paar Drinks zur Freude aller gerne mal seine Schneidezahn-Prothesen herausnahm, den Marburger Saxophonisten Matthias sowie die Vaterfigur der Gruppe Charsten, einen dänischen Maler, dem zu Hause die Decke seines Ateliers auf den Kopf gefallen war.

Dieser zusammengewürfelte Haufen, den eine Vorliebe für Musik, fremde Länder und die Cannabis-Pflanze einte, war nun seit ein paar Wochen gemeinsam unterwegs und wir hatten schon einiges miteinander erlebt. Verdorbene Mägen in Chennai, Affen und Tempel in Mamallapuram, Yogis und Masala Dosas in Pondycherry. Tagelanges Bodyboarden in Kovalam, ein frostiger Ausflug in die Berge Tamil Nadus, Nächte voller handgemachter Musik in Varkala sowie eine geschlagene Woche in einem Ashram, der idyllisch an einem krokodilverseuchten See lag. Für letztere hatten wir uns extra alle noch weiße Klamotten besorgt, da wir glaubten, das müsse in einem Ashram so. Musste es nicht.  Alle anderen Yogis waren bunter als bunt gekleidet und uns hielt man fortan für eine Boyband am Anfang ihrer Karriere.

Marco Buch mit Mitreisenden in einem Ashram-Kloster in Indien
Ashram-Gruppenfoto ohne Charsten: Rennie, Matthias, ich, Eijiro, Daniel

In Goa Indien verbrachten wir eine knappe Woche, die von atemberaubenden Stränden, viel billigem Rum und ausgedehnten Ausflügen mit unseren gemieteten Mopeds geprägt war. Tatsächlich aber suchten wir Parties wie jene, bei der die Kassette aufgenommen wurde, die mittlerweile in den Tiefen meines Rucksacks versandete, bis zu unserer Abreise vergeblich. Und das, obwohl sogar ein einwandfreier Vollmond in unsere Zeit vor Ort fiel. Vielleicht waren die goldenen Jahre nun wirklich endgültig gelaufen. Oder es war entgegen aller Behauptungen eben doch Nebensaison. Vielleicht waren wir aber auch einfach zu unbeleckt, um die geheimen Zeichen deuten zu können, welche den Weg zu den verheissungsvollen Stränden wiesen, an denen die Menschen bis zum Morgengrauen halbnackt zur Geschwindigkeit von 150 BPM tanzten. So richtig traurig jedenfalls stimmte das keinen von uns. Im Englischen sagt man: „Three is a party.“ Wir waren zu sechst.

Verkäufer am Strand von Arambol Beach in Goa, Indien
Arambol Beach, Goa, 2014. Damals war’s sogar noch etwas schöner.

Nach der Woche in Goa hingen wir noch ein paar Tage im unwirklichen und wahrlich zauberhaften Hampi mit all seinen Felsen und Bastkörben als Flussfähren herum, bevor sich unsere Gruppe dann doch schließlich schweren Herzens trennen musste. Daniel, Matthias und Charsten zogen weiter nach Norden, Eijiro und Rennie wollten noch einige hanfgetränkte Bang Lassi mehr in Hampi trinken und danach im Delirium in Richtung des massigen Flusses hinausschaukeln. Ich selbst musste zurück nach Chennai, denn mein Rückflug wartete.

Eine ewige Zugfahrt, auf der ich im Minutenrhythmus gefragt wurde, ob ich verheiratet sei und selbst nach einer Verneinung noch für ein Foto posieren musste. Ein Tag in der Chaos-Metropole Chennai mit all ihrem Müll, all ihren Obdachlosen und Krüppeln sowie ihrem Fluss, den ich als schwarze puddingartige Masse erinnere, bei dessen Anblick man den Eindruck gewann, man könne problemlos hinüberlaufen. Dann ging mein Flug zurück ins normale Leben.

Bei einem Zwischenstopp in Heathrow traf ich auf einem Rollband überraschend eine Bekannte, die für ein Wochenende zum Shoppen nach London gekommen war und erst nach fünf Minuten realisierte, dass der ausgemergelte, braungebrannte, glatzköpfige, seltsam gekleidete Typ ich war.

Sonnenuntergang über Goa Indien
Vorbei, die Zeiten spektakulärer Sonnenuntergänge

Die ersten Wochen zu Hause dienten der Eingewöhnung sowie der Bekämpfung jenes Magenparasiten, der sich mir höflicherweise noch auf der Rückreise angeschlossen hatte. Schon bald liess der deutsche Herbst meine gebräunte Haut abblättern, meine Haare hingegen wuchsen unaufhaltsam. Mein Magen erholte sich schnell und nach nur kurzer Zeit hatte ich mein altes Gewicht wieder. Die Hippie-Klamotten aus Goa blieben zunächst im Schrank.

Erst nach und nach kämpfte ich mich durch die Flut von Souvenirs, die noch immer in meinem Rucksack steckten. Ich hatte es mir zur Regel gemacht, dass ich jede Woche nur zwei Dinge auspacken durfte, um noch länger von meiner Reise zu zehren. Spleens eines Nostalgikers.

Doch nach ein paar Wochen stiess ich plötzlich auf die Kassette ‚Full Moon Party Goa‘, die ich bereits völlig vergessen hatte. „Good.“ Sofort hatte ich wieder das Grinsen des verrückten Japaners im Kopf, wie auf Knopfdruck wurden alle indischen Erlebnisse in meinem Kopf wieder lebendig. Ich meinte sogar, plötzlich die Nelken und den Zimt der Gewürzstände auf dem Flohmarkt riechen zu können. Ich musste nun unbedingt wissen, ob ich mich nicht doch noch mit Goa Trance anfreunden konnte! Die Nachreise-Euphorie konnte da sicher nur hilfreich sein.

Gewürzverkäufer auf dem Anjuna Flea Market in Goa Indien
Gewürze auf dem Anjuna Flea Market, 1999

Auf meiner nachmittäglichen Fahrt zurück in meine Studentenbude im etwa eine Stunde entfernten Mainz schob ich die Kassette neugierig in mein Autoradio und machte mich auf was gefasst. Doch tatsächlich musste ich feststellen, dass die ersten Takte der Musik keineswegs so schnell waren, wie ich Goa Trance sonst kannte. Auch die schreckliche Monotonie schien sich deutlich in Grenzen zu halten. Wenn ich ehrlich war, gefiel mir das Ganze eigentlich recht gut. Und so drehte ich noch etwas lauter und wippte bereits heftig mit dem Kopf im Takt, als ich die Skyline Frankfurts passierte.

Kassette mit Goa Trance
Die Kassette, die überraschte…

Doch als ich die Main-Metropole gerade links liegenliess und gen Westen abbog, unterbrach plötzlich eine Verkehrsmeldung den sonst pausenlosen Mix: „Hier ist der Hessische Rundfunk. Ein Hinweis für Nord- und Mittelhessen: Durch überfrierende Nässe kann es immer wieder zu Glätte kommen.“ Ich war etwas perplex. Ja, es war ein vergleichsweise kalter Oktober, aber überfrierende Nässe?! Hatte ich überhaupt schon Winterreifen montiert? Würde die Heizung in unserem baufälligen Mainzer Haus überhaupt funktionieren? Wie verdammt lang wollte der Winter in Deutschland eigentlich noch werden?!

Doch es wurde noch seltsamer, denn der geeichte Signalton beendete die Verkehrsmeldung nicht wie sonst üblich. Stattdessen vernahm ich plötzlich eine sehr vertraute Stimme: „Willkommen zurück bei der HR3 Clubnight, heute mit mir, Sven Väth, an den Decks.“ Als die Musik brachial wieder einsetzte, wurde mir klar, dass der Verkehrsfunk meines Radios gar nicht eingeschaltet war. Die überfrierende Nässe, der Hessische Rundfunk, ‚Svenni‘ himself – all das kam direkt von der Kassette, die ich von Goa bis hierher geschleppt hatte. Ich musste lauthals lachen und drehte die Anlage vergnügt bis ans Limit. Der Kreis hatte sich geschlossen!

Verkäuferin mit Wandbeschriftung in Goa Indien

Mehr Geschichten aus Indien? Hab‘ ich!

Mehr Geschichten aus der Welt? Hab‘ ich auch!

Bücher von Marco Buch

 

Mehr von Marco Buch

Food Tour Athen: Mit den Ohren schmecken!

Die griechische Küche gehört zu den Top-Küchen Europas. Griechische Restaurants gibt es in...
Weiterlesen

2 Kommentare

  • Na das ist ja eine Goa-Geschichte. Und einer verrückten Reise einer Cassette nach Indien, um dort vermutlich hundertfach kopiert zu werden, und als Klon dann wieder zurück. ;-)

    Ich habe mir in Goa ein möglichst ruhiges Plätzchen ausgesucht. Fullmoon-Party & Co sind nicht ganz mein Ding. Aber wer’s mag findet in Goa einige Strände um dort Tage, Wochen oder auch Monate zu feiern. :-)

    • Die ruhigen Plätzchen werden rarer… Doch ein paar gibt es noch. Die sollten wir vielleicht besser für uns behalten!
      Safe travels,
      Marco

Kommentar schreiben

Deine Email wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert