Aus dem Archiv: Meine Zugerlebnisse in Myanmar.
‚Can see good thing in train!’ Dies war gestern Abend die eloquente Antwort der Guesthouse-Mama auf meine drängende Frage ‚Bahn oder Bus für den Rest der Strecke zum Inle-See?’, und mir Argument genug, nun auf ein Neues einen der hellblauen Waggons zu besteigen. Und das, obwohl ich nach der Strecke Yangon-Thazi gestern eigentlich geglaubt hatte, 14 Stunden Zugfahrt seien durchaus genug gewesen. Beeindruckend, außergewöhnlich, besinnlich, ohne Frage, aber doch auch irgendwie erst mal ausreichend.
Gerädert von der klapprigen Fahrt, den monotonen Rhythmus der ausgeschlagenen Gleise noch immer im Hinterkopf vor mich hin beatboxend, hatte ich gestern Abend festgestellt, dass ich im Dörfchen Thazi wie schon auf der gesamten Zugfahrt mal wieder der einzige Tourist war. Nach der unbändigen Freude der Guesthouse-Besitzer zu urteilen war ich wohl auch seit geraumer Zeit der erste.
In diesem kleinen Transit-Örtchen in Myanmar gibt es ganze zwei Guesthouses, und nur eines davon verfügt über ein Restaurant. Der Fairneß halber teilte ich meine kurze Zeit vor Ort gut ein und meine Ausgaben gleichmäßig auf: Ich schlief in dem einen, und ass in dem anderen.
Um zudem den offensichtlich schwelenden Kleinkrieg der beiden Besitzer um die wenigen hier aufschlagenden Touristen etwas zu besänftigen, teilte ich dem erstaunten Restaurantbesitzer mit, die Guesthouse-Mama habe mir wärmstens empfohlen, bei ihm zu essen. Im Gegenzug erzählte ich ihr nach dem Essen, er hätte gesagt, bei ihr schlafe es sich auch gar nicht so schlecht. Think globally, act locally.
Nachdem ich also schon wieder um halb fünf aufgestanden bin, bahne ich mir im fahlen Schein meiner Miniatur-Taschenlampe einen Weg durch Pferdekarren neben alten schlafenden Rappen, marodierende Hundebanden mit Hautproblemen und schwelende Feuerchen, und laufe entlang der Gleise zur in völliger Dunkelheit gelegenen überschaubaren Haltestelle, die sie in Myanmar Bahnhof schimpfen. Wieder hat man mich in der ‚Ordinary Class’ in Fahrtrichtung am Fenster platziert, was bezüglich der ‚guten Dinge’, die es ja offenbar auf der Fahrt zu sehen geben wird, sicher nett gemeint war, leider aber auch bedeutet, dass mir wieder drei bis vier Stunden lang der kühle Morgenwind ins schutzlose Gesicht wehen wird. Denn wie überall im Land hat der Begriff Fenster mit dem Begriff Scheibe nicht allzuviel zu tun. Ich mache es mir im Dunkeln zwischen den Einheimischen bequem, ziehe mir die Kapuze über den Kopf und nicke ohne Umschweife ein.
Trotz drei Lagen Kleidung und einem gestern Abend erstandenen und zum Schal umfunktionierten Frottee-Handtuch friere ich wie ein Schneider, als ich gegen sieben Uhr aufwache. Mein rechter Sitznachbar schläft selig an meiner Schulter und auch sonst mutet unser Abteil im ersten Schein des Tageslichts eigentlich recht gemütlich an. Ich schüttele zögerlich meine eingefrorenen Glieder warm und warte sehnsüchtig auf das erste Essen.
Während der 14-stündigen Fahrt gestern hatten mir Verkäufer in kurzen Intervallen Krapfen mit süßer Kondensmilch, Reisnudeln mit Sojasoße, mit süßen Bohnen gefüllte Teigklösse, Curry mit hartgekochten Eiern, Reiskuchen, dunkle Pfannkuchen mit Sesam, Fladen mit verschiedenen Chutneys, erbsengroße frittierte Kugeln, flache knackige Gebäckkringel, tellergroße hauchdünne Cracker aus Sesam und Kokosöl, frittierte Bananen, Gemüse-Batthura, mit frittierten Chillies garnierte Fleischcurries, Halva in verschiedensten Farben, Wachteleier, gedünstete Erdnüsse, geröstete Sonnenblumenkerne, klebrig-süße Fettkringel, frische Samosas, Erdnussfladen in Frisbee-Grösse, große gelbe Bälle aus Kokos, indische Süßigkeiten aus viel Butter und Fett, Rotis, gebratenen Fisch, Chai und höllisch süßen Kaffee, große Dampfnudeln, sowie Orangen, Melonen, Kokosnüsse, Kohlköpfe, Tomaten, Paprika und diverse Kräuter angeboten. Wenig überraschend also, dass ich mir für heute keinen Proviant eingepackt habe.
Es wird halb acht, dann acht, und mein Magen beginnt so laut zu knurren, dass mein Sitznachbar erschrocken seinen Kopf von meiner Schulter nimmt. Ich schleppe mich mit steifen Beinen zum Ende des Waggons und zünde mir, mit dem Fahrtwind kämpfend, eine Cheroot an.
In den letzten Wochen in Myanmar habe ich mir die dicken grünen Zigarren zusehends angewöhnt, da ihr Rauch der Atmosphäre stets als das sprichwörtliche Tüpfelchen auf dem i dient, und ich mir inmitten der beeindruckenden weißen Wolke zudem immer sehr verwegen vorkomme. Träge vor mich hinrauchend beobachte ich mehrere Menschen dabei, wie sie geschickt den Abgrund zwischen den beiden Waggons überwinden, denn die dafür vorgesehene Metallbrücke ist leider fast vollständig weggerostet. Im gestrigen Zug hatte mich das noch kurz verunsichert und ich hatte stets befürchtet, auch die Außenwand müsse jeden Moment dem Vorbild der Brücke folgen und schlichtweg abfallen; heute betrachte ich die Dinge bereits deutlich gelassener.
Nicht jedoch das Essensdilemma! Die Kälte kriecht nun langsam zu den Fenstern raus und vermischt sich mit dem Rauch der Lokomotive, während die Sonne nach und nach die Gipfel der uns umgebenden Shan-Berge erklimmt. Die Einheimischen kommen zu sich. Viele strecken sich, einige tuen es mir gleich und begrüssen den Tag mit einer geballten Ladung Rauch, manche öffnen voller Vorfreude das erste Betelnusspaket, fast alle aber spucken erst mal lautstark grosse Klumpen Schleim aus den Fenstern ohne Scheiben.
Durch das Rauchen und den Hunger habe ich eine Art Trancezustand erreicht. Die Schrittgeschwindigkeit des Zuges trägt nicht gerade zur Hoffnung auf einen baldigen Stopp bei.
Draußen ziehen sich waschende Menschen vor simplen Bambushütten vorbei, letzter Rauch steigt aus den Feuern der vorigen Nacht auf. An den Bahnübergängen in Myanmar stehen geduldig Menschen und blicken den Zug an, als sei er der erste, den sie je zu Gesicht bekommen haben. Sie winken ehrfürchtig, ein paar Passagiere winken nicht minder ehrfürchtig zurück. Dann wieder lange nichts. Flüsse, Hügel, Felder; grün und gelb bleiben die vorherrschenden Farben. Kleine Siedlungen am Hang, nackte Kinder im Morgendunst. Vor meinen müden Augen erscheint ein Schwein, dass durchau das grösste der Welt sein könnte, mit Sicherheit aber das größte ist, das meine Augen je erblickt haben. Ich will ihm noch hinterhersehen, doch selbst für den Weg zum Fenster bin ich mittlerweile zu schwach.
Als ich eine vorgetäuschte Ohnmacht gerade als mögliche Maßnahme zur Nahrungsgenerierung in Betracht ziehe, verlangsamt das Monstrum aus Eisen tatsächlich endlich seine ohnehin schon schneckengleiche Fahrt. Ich jubiliere.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich bereits all die energischen Verkäufer hereinströmen, in immer denselbem Tonfall ihr jeweils eines, exklusives Gericht anpreisend, das sie in großen Metallschalen auf dem Kopf tragen.
Doch es steigen nur drei hagere Frauen ein, von energisch kann hier keine Rede sein. Es muss an der Höhe liegen. Und alle drei haben das gleiche Gericht im Angebot. Was es ist, kann ich nicht sehen, da die einzelnen Portionen in Bananenblätter eingewickelt sind. In meinem jetzigen Zustand ist es mir allerdings auch völlig egal; ich kaufe blind ein prall gefülltes Bananenblatt, reiße es auf, und beginne das Zeug hastig mit der rechten Hand in mich hineineinzuschaufeln.
Seltsame Konsistenz, interessanter Geschmack, komische Formen, denke ich noch so bei mir. Dann habe ich den roten Hühnerfuss in meiner Hand. Ich schaue mir das Ganze also genauer an.
Im Englischen würde man das von mir bereits zur Hälfte verzehrte Gericht wohl am Treffendsten mit ‚Lips and assholes’ beschreiben. Mit anderen Worten: All jene Körperteile eines Huhns, die unsereins eher großzügig dem Hund überlässt, geben sich hier ein pietätsloses Stelldichein auf einem Berg aus fettigem Reis. Die Einheimischen um mich herum freuen sich von Herzen, als sie die Veränderung in meinen Gesichtszügen bemerken. Sie lachen und klopfen mir auf die Schulter, ich lache mit. In einem unbeobachteten Moment wische ich das Bananenblatt samt Inhalt nonchalant vom Tisch in Richtung Fenster. Auf hundert Meter Bahngleise kommen etwa 5 hungrige Hunde in von Flöhen zersetztem Fellkleid.
Ab diesem Moment plätschert die Zeit in etwa so dahin wie in einem amerikanischen Indie-Roadmovie. Es geschieht nahezu nichts. Der Rhythmus meiner Zigarren ersetzt mir zuverlässig eine Armbanduhr. In einem Land, in denen Ankunftszeiten stets plus/minus fünf Stunden gelesen werden müssen, verlieren Uhren ohnehin deutlich an Bedeutung.
Bei jedem Stopp in all den kleinen Dörfern steigen nun tatsächlich Verkäufer ein, die Auswahl der angebotenen Speisen jedoch ist hier oben in den Bergen einfach entschieden kleiner. Bei jedem erneuten Anfahren lassen die ohrenbetäubenden Geräusche der Waggons darauf schliessen, dass der gesamte Zug nun endültig die Zeichen der Zeit erkannt hat und das Zeitliche segnen wird, was er dann seltsamerweise jedoch nie tut. Fast hätte ich ein wenig Lust drauf.
Zwischendurch frage ich mich, warum ich die Strecke nicht einfach gelaufen bin. Ich hätte unter Umständen schneller sein können. Den Einheimischen ist die Reisegeschwindigkeit mehr als egal. Viel zu sehr sind sie damit beschäftigt, mich, freundlich lächelnd, interessiert zu beäugen, ihr jeweiliges Betel-Level konstant zu halten, sowie jeden Fitzel Müll, den sie im Zug finden können, mit vollen Händen in die hübsche Natur des Shan-Staates zu werfen. Als zehn von zwölf Stunden vergangen sind, und ich meinem Ziel, dem Inle-See, nach fast zwei Tagen Zugfahrt nun endlich unaufhaltsam näher komme, ereignet sich zum ersten Mal seit Stunden etwas Nennenswertes.
Mir gegenüber sitzt ein ältlicher Mönch. Wie lange schon, würde mir schwer fallen zu bestimmen. Während er, einer wiederkäuenden Kuh gleich, Betel zwischen den Backenzähnen zermalmt, kürzt er sich in kontemplativer Körperhaltung mit einem Nagelknipser gewissenhaft seine acht Barthaare am Kinn, was bereits jetzt eine beachtliche Zeitspanne in Anspruch genommen hat.
Meine sechzehnte Cheroot rauchend, schaue ich ihm dabei zu, und kontempliere meinerseits über das Mißverhältnis von Zeit, die ich in Myanmar in Verkehrsmitteln totschlagen muß, im Verhältnis zu Zeit, die ich einfach an Stränden herumliege. Da fängt der Rotgewandete urplötzlich an, wild zu gestikulieren und mir immer wieder ‚Photo, photo!’ zuzurufen. Nach ein paar Momenten, in denen mir vor Schreck die Zigarre aus der Hand zu fallen droht, verstehe ich endlich: Er möchte, dass ich die Brücke aus Beton, die wir demnächst in einer 270-Grad-Kurve zunächst über- und dann unterqueren werden, auf Zelluloid respektive Speicherkarte banne. Diese Brücke lässt sich nur mit viel Wohlwollen als ein architektonisches Meisterwerk bezeichnen, und die Ausgeleiertheit des Zuges gepaart mit den von Betel und Desinteresse getrübten Fahrkünsten des Lokführers begünstigen auch nicht gerade ein unverwackeltes Bild. Abgesehen davon ist das Fotografieren militärischer Einrichtungen und Brücken für Touristen vom Militär ausdrücklich verboten.
Doch ich tue ihm den Gefallen. Ich zücke meine Kamera und ziele, der Mönch freut sich einen Ast ab. Der Lokführer scheint zugleich zu bremsen und Gas zu geben, die porösen Waggons reiben sich aneinander wie brünftiges Rotwild. Aber just in dem Moment, da ich theatralisch den Auslöser drücken will, katapultiert der heilige Mann unvermittelt eine dicke Ladung Betelspucke aus seinem Mund durch den Fensterrahmen. Gegen den Wind, versteht sich. Die 270 Grad tuen ihr Übriges. Meine Linse verfärbt sich rot.
Du willst noch mehr Geschichten? Ich hab noch mehr Geschichten!
Danke für diesen Super Post, Marco. Es fühlt sich fast an, als ob ich mit dir im Zug sitze. Und die Geschichte um den Kleinkrieg zwischen dem Restaurantbesitzer und der Guesthouse-Mama finde ich herrlich. Prima gelöst, kann ich da nur sagen ;-)
Tausend Dank, Monika!
Coolste Post ever, konnte mich richtig reinfühlen und bei mir geht’s in 3 Tagen wieder los !!!