Tunesien im kreativen Umbruch

Straßenszene in Houmt Souk
Straßenszene in Houmt Souk

Tunesien ist das Land, das verhältnismäßig am besten aus den Umwälzungen des Arabischen Frühlings herausgekommen ist, der übrigens damals hier seinen Anfang nahm. Nirgends sonst in der arabischen Welt hat sich seither eine dermaßen demokratische Gesellschaft herausgebildet. Nichtsdestotrotz gab es im letzten Jahr mehrere terroristische Anschläge, die einer extrem wichtigen Branche hart zugesetzt haben: Dem Tourismus, von dem in Tunesien etwa 400.000 Menschen leben. Seit 2010 sind mehr als ein Drittel der internationalen Touristen weggefallen. Deutsche kommen sogar nur noch halb so viele wie früher.

In meinen paar Tagen vor Ort konnte ich mit eigenen Augen sehen, wie leer es in Tunesien vielerorts ist, und wie hart Hotelbetreiber und Gastronomen mitunter zu kämpfen haben. Und doch ist bei mir viel stärker ein ganz anderes, und deutlich positiveres, Phänomen hängengeblieben: Der kreative Umbruch, der sich gerade im ganzen Land auszubreiten scheint.

Dass hier gerade Veränderungen im Begriff sind, wird uns fast schon plakativ beim ersten Blick auf Tunis vorgeführt. Direkt an der Avenue Bourguiba, dem Prachtboulevard von Tunis, stellt man gerade die alte Statue des ehemaligen Präsidenten Habib Bourguiba wieder auf. Sie ist noch verhüllt, und doch liegt Verheißung in der Luft. Hier passiert gerade etwas, und dieses Gefühl lässt mich auch in den folgenden Tagen nicht mehr los.

Tunesien: Statue an der Avenue Bourguiba

Fashion Week Tunis – ein Novum in Tunesien

Zunächst ist da die Fashion Week, die diesmal an einem beeindruckenden Ort stattfindet. Gleich am ersten Abend finden wir uns im Amphitheater von Carthage, dem alten Karthago, ein. Neben tunesischen Designern zeigen hier auch internationale Labels an vier Abenden ihre neuesten Kreationen. Doch auch wenn dies bereits die achte Fashion Week in Tunis ist, erläutert der Vorsitzende der Textilindustrie Anis Montacer stolz die Besonderheit in diesem Jahr: Zum ersten Mal kommen Textilindustrie, Kunsthandwerk und Modedesigner in einer kreativen Verschmelzung zusammen. „Je declare la Fasion Week 2016 ouverte!“, schmettert er in die Mikrofone, während wir umgeben sind von den Möbelkreationen des Designers Achraf Baccouch sowie ein paar Gemälden lokaler Künstler. Ein junges Gebäck-Start-Up reicht dazu Cupcakes.

Während die Models, teils tunesisch, teils international, beim Schminken Selfies von sich selbst schießen, werden wir umschwirrt von Machern und Journalisten. Ich lerne Farak Elkhadi vom Jetset Magazine kennen, deren Outfit in puncto Extrovertiertheit die Kreationen mancher Designer in den Schatten stellt. Sie ist zu beschäftigt und zu aufgeregt, um mir Fragen zu Tunesien zu beantworten. Stattdessen freundet sie mich schnell auf Instagram an, denn sie ist natürlich auch noch Bloggerin. „I have more followers than you!“, ruft sie noch freudig aus, dann ist sie auch schon wieder in der Masse aus Menschen verschwunden, denen man größtenteils ansieht, dass die Fashion Week auch im achten Jahr noch eine echte Besonderheit ist.

Mitinitiator der Fashion Week ist der umtriebige Seyf Dean, der zugleich als Chefredakteur des tunesischen Modemagazins FF Designer fungiert. Er ist ins Gespräch vertieft mit dem französischen Designer Naco, dessen sackartiges Shirt in großen Buchstaben verkündet: ‚Art is resistance‘. Sein Stil ließe sich auf jeden Fall als ‚resistance‘ bezeichnen. Doch wie habe ich mir noch im Hotel von meinen deutlich mode-affineren Kolleginnen beim Blick auf mein eigenes Outfit bestätigen lassen: Bei einer Fashion Week geht im Grunde alles.

Beispielhaft für meine Eindrücke vom heutigen Tunesien stehen die Defilées der Designer. An vier Abenden bekommen wir eine wilde Mischung aus Tradition und Moderne zu sehen. Selbst in den teils gewagten Entwürfen der tunesischen Designer finden sich immer wieder Zitate alter Muster und Stoffe. Und zum für diese Region doch recht freizügigen Kostüm tragen die Damen der Upper Class im Publikum dann eben einfach die moderne Interpretation eines Schleiers.

Tunesien: Fashion Week Tunis
Fashion Week Tunis

Street Art und Tradition

Auch bei unseren Exkursionen entdecke ich immer wieder diese interessante Kombination von Orient und Okzident, von Tradition und Moderne. Etwa das Städtchen Eriadh auf der Insel Djerba mit seinen traditionellen Bauten, vor denen die alten Männer wie vor Jahrhunderten plaudern und Tee trinken. Direkt nebenan jedoch liegt ‚Djerbahood‘, ein Street-Art-Projekt, initiiert vom Pariser Galeristen Mehdi Ben Cheik. Hundert internationale Künstler durften sich, nach Zustimmung der Dorfgemeinschaft, auf den traditionellen Häusern mit ihrer orientalischen Architektur verewigen. Und so ergibt sich ein erstaunlich heterogenes und doch stimmiges Bild: Hier ein Laden mit Trockenfrüchten, aus dem der Verkäufer freundlich grüßt. Nebenan ein knallbuntes Wandgemälde, das mit den leuchtenden Bougainvilleen zu verschmelzen scheint. Und direkt daneben wiederum eine kleine Galerie, die sowohl traditionelle Wandteppiche als auch modernes Möbeldesign anbietet.

Tunesien: Djerbahood
Djerbahood

Auch das ein immer wiederkehrender Aha-Moment während meiner Tage in Tunesien: Wie ästhetisch, wie friedlich althergebrachte Tradition und Kultur mit Neuem zusammengehen können.

Tunesien: Tradition und Moderne auf Djerba

Design und Architektur in Tunesien

So auch im nahegelegenen Design Hotel Dar Bibine, das auf wunderbare Weise zeigt, wie moderne Architektur und avantgardistisches Design dem Charme aus 1001 Nacht keinen Abbruch tun, sondern ihn sogar noch verstärken können. Auch hier sind visionäre Gestalter am Werk, welche die Gunst der Stunde in Tunesien nutzen, die ungewohnte Liberalität, die neugewonnene Freiheit.

Tunesien: Pool und Sitzecken im Hotel Dar Bibine
Hotel Dar Bibine

„The former system killed creativity,“ sagt Sofiène Ben Châabane, halb Franzose, halb Tunesier, und Chef des Labels Lyoum („Heute“), das genau zur Zeit des arabischen Frühlings gegründet wurde und jetzt im hippen La Marsa zu Hause ist. Jetzt sei alles anders, man erlebe wirklich eine ganz besondere Zeit. Ja, es gebe heute vielleicht sogar noch mehr Korruption als früher. Aber dafür könne man jetzt frei reisen und innovative Ideen umsetzen, neue Herangehensweisen wagen. Auch sein Label schlägt in dieselbe, oben beschriebene Kerbe: Westliche Designs, bedruckt mit traditionell tunesischen Messages. Alles bewusst in Tunesien produziert, erfolgreich vermarktet aber durch die Internationalität auch in Paris.

Er sagt, dass das Tunesien von heute eigentlich alles hat, um erfolgreich zu sein. Es brauche nur eine Art neues Branding. Er erzählt, dass auch in Tunesien Blogger und Social Media Influencer eine immer größere Rolle spielen. Ein tolles Beispiel, wie man die neue Ästhetik auch mit konventionelleren Idealen in Einklang bringen kann, ist für ihn der Instagram-Account ‚the Tunisians‘.

Der sympathische Gründer entlässt uns mit einem Satz, der seine Mission zusammenfasst: „We want to bring some good vibes from this region with all the bad news!“ Läuft!

Wer nach Tunesien fährt, der sollte sich diesen Termin vormerken:

Kreativität überall

Wir besuchen einen Friseursalon, der so auch in Berlin stehen könnte. Tatsächlich lässt mich das abgerockte Design daher auch erst mal kalt. Zu oft schon zu Hause gesehen, doch für tunesische Verhältnisse ist der Laden ein absolutes Novum. Wie um das noch zu untermalen, befindet sich gleich im Laden nebenan Tunesiens erstes Tätowierstudio Fahwez le Tatoueur. Denn nach dem Koran sind Tattoos Sünde und waren daher bis vor zwei Monaten tatsächlich noch gesetzlich verboten!

Leider ist der Tätowierer nicht da, dafür aber die Besitzerin des Friseurgeschäftes, Algerierin und offensichtlich ebenfalls voller kreativer Energie: „C’est une belle aventure, la Tunisie!“ Wenn es nach ihr ginge, würde sie schon bald die tunesische Ausgabe einer Friseurnacht veranstalten, wie es sie in Paris gibt.

Und dann ist da noch Sidi Bou Said, die blaue Stadt am Meer, die schon Paul Klee zu seinen Gemälden inspiriert hat. Unromantischer Fakt: Blau ist sie eigentlich hauptsächlich, da diese Farbe die Fliegen abhält. Sei’s drum. Jedenfalls findet man auch hier ungewöhnliche Geschäfte mit kleinen Schätzen sowie überraschende Design Hotels wie etwa das Dar Fatma. Die kleine, aber feine Unterkunft mit dem Pool auf dem Dach und den zahlreichen Details ist sogar noch einigermaßen erschwinglich.

Tunesien: Ausblicke in Sidi Bou Said
Sidi Bou Said

Wer es noch eine Spur pompöser möchte, der checkt im Hotel 5 Etoiles ein, wo schon Claudia Cardinale einige Nächte verbracht hat. Von der als Garten angelegten Terrasse hat man einen atemberaubenden Blick in Richtung der Berge.

Tunesien: Der Ausblick vom Hotel 5 Etoiles
Der Ausblick vom Hotel 5 Etoiles

Neue Chancen für Kreative

Bei einem Gespräch mit Bloggern, Journalisten und Kreativen im schicken Restaurant Babboucha am Seeufer merke ich noch deutlicher, welche neuen Chancen sich hier gerade für kreative Menschen auftun.

Bloggerinnen in Tunesien
Tunesische Bloggerinnen

Niemand möchte so wirklich mit mir über die politischen Umwälzungen sprechen, ganz einfach, weil es momentan wirklich wichtigere Dinge zu tun gibt. „It is an exciting moment in history“, sagt etwa die Taschendesignerin Miriam, deren beliebtestes Modell eine Tasche in Form einer Milchtüte ist. Vor der Umwälzung hätte das kollektive Bewusstsein immer gesagt: Dies ist nicht möglich, das ist nicht möglich. Das sei jetzt alles anders, erzählt sie mir freudestrahlend. Die Fashion Bloggerin Fethia Sabrina Farhani (Vita Luna Spirit), ebenfalls geradezu vibrierend vor Energie, fasst es so zusammen: „After the revolution, everyone woke up!“ Seither gebe es plötzlich viel mehr Designer, Blogger, Filmemmacher, Kreative. Und ja, auch die älteren Menschen würden diese Entwicklung durchaus positiv sehen, auch wenn sich die ganze Kreativwelt momentan noch in einer Art Paralleluniversum abspiele.

Wie ein Paralleluniversum fühlt sich auch ein Besuch in der Galerie ‚Musk and Amber‘ an, die eine wahre Fundgrube für Designverliebte ist. Möbel, Bücher, Gadgets, Klamotten – eine derart große Auswahl gibt es im arabischen Raum kein zweites Mal.

Tunesien: Objekte im Laden Musk and Amber
Musk and Amber

Essen in Tunesien

Beim Essen bleibt Tunesien traditionell, und das ist auch gut so. Denn die Küche des Landes ist vielseitig und wahnsinnig lecker. Schon am ersten Tag der Reise bekommen wir das im Restaurant Haroun zu spüren, auf Djerba direkt am Meer gelegen. Es gibt das Nationalgericht Ojja (eine Art Tomatensauce mit wechselnden Zutaten), Finger der Fatma (eingewickelte Hackfleischröllchen), geräucherte Paprika, frittierte Krabben mit Harissa und Mayonnaise, dazu Brot, Oliven und Öl. Danach genießen wir frische Fisch-Filets.

Tunesien: Tunesische Spezialitäten
Tunesische Spezialitäten

Und gerade das ist auch das Tolle an Tunesien: Dass man auch heute, trotz der kreativen Umwälzungen, noch überall die echt tunesischen Dinge findet. Hierfür muss man im Grunde nur zum Marché Central in Tunis gehen. Zwischen Fisch, Käse, Nudeln, Oliven, Datteln, Harissa, Obst und Gemüse fühlt man sich hier wie vor vielen Jahrzehnten. Dort, wie überall sonst, wird man freundlich empfangen von den Tunesiern, die mir alles in allem ein sehr lebensfrohes Volk zu sein scheinen. Mein interessierter Blick auf einen mit Leckereien gefüllten Teller bei einem Imbiss etwa führt dazu, dass der Besitzer des Tellers mich direkt dazu einlädt, das Essen mit ihm zu teilen.

Marché Central Tunis
Marché Central Tunis

Die Kombination tunesischer Gastfreundschaft und traditioneller Kultur mit den kreativen Veränderungen dieser Tage lässt hoffen auf eine bessere Zukunft, in der auch die Touristen wieder in das sympathische Land strömen. ‚Inshalla!‘, bleibt da wohl nur noch zu sagen.

Tunesien: Blumenstand in Tunis
Freundliche Tunesier

Transparenz: Ich wurde zu dieser Reise vom tunesischen Fremdenverkehrsamt eingeladen. Das hat, wie immer, keinen Einfluss auf meine objektive Berichterstattung.

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2 Kommentare

  • Ganz toller Artikel, Marco, und ein ganz spannendes Thema! Das gibt definitiv Hoffnung! Ich musste beim Lesen seltsamerweise auch an meinen Besuch in Kigali (Ruanda) denken, wo junge Kreative ebenfalls für Aufbruch sorgen.
    Die Djerbahood und das Designhotel würde ich mir jedenfalls auch gerne mal anschauen. ;-)

    • Danke, Susi!!
      Djerbahood ist wirklich cool, sollte man aber früh oder spät besichtigen, sonst wird es wirklich zu heiss. Und die Design Hotels dort sind alle toll, besonders jene in Sidi Bou Said!
      Viele Grüße,
      Marco

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