Aus dem Archiv: Die zweite Geschichte aus Myanmar anno 2010, eine Fahrt auf dem Ayeyarwaddy.
Ein abgehalftertes Taxi spuckt mich an der Bootsanlegestelle am Ayeyarwaddy aus. Sofort habe ich eine Schar Kinder in schmutzigen, zerrissenen Klamotten um mich, die mir lachend und gestikulierend folgen. Im Hafen laufen hunderte Menschen umher, ich sehe keine Langnase weit und breit. Dafür interessierte Blicke und Gesten allerorten. Selbst das grimmigste Gesicht zeigt mir ein Lächeln, wenn ich die Leute meinerseits lächelnd mit „Mingalabaa“, meinem ersten Wort in der Landessprache Myanmars, begrüsse. Ein alter Tabakverkäufer weist mir den Weg durch das betagte Schiff zu meiner Kabine im ersten Stock. Zwei ranzige Betten, ein Ventilator, die Scheiben sind mit Holzkeilen gesichert. Ich werfe meine Siebensachen hinein und verschliesse die Tür schnell mit meinem Miniaturvorhängechloss, dann steige ich wieder runter ins Gemenge.
Drahtige, dunkle Menschen beladen den Bauch des Schiffes in einer atemberaubenden Geschwindigkeit mit Säcken, Fässern, Kisten, mit Holz, Stahl, Plastik, Gemüse und lebendigen Tieren. Ich beobachte das Treiben von einer metallenen Seitentreppe aus. Alle fünf Minuten will mir jemand etwas andrehen, Getränke, Obst, Rotis, Tabak. Eine kleine Verkäuferin von vielleicht zehn Jahren ist besonders hartnäckig. Sie schaut mich einfach nur unablässig an mit ihren grossen dunklen Augen und dem ebenmässigen Gesicht, die Wangen mit Tanaka, einer gelblich-weissen Paste aus Holzrinde, vor der Sonne geschützt, und fragt immer aufs Neue: „Water?“. Obwohl ich schon zwei Flaschen habe, zahle ich ihr schliesslich einen Wucherpreis für eine dritte. Glücklicherweise merke ich später vor dem Trinken gerade noch, dass das Siegel gebrochen ist und ich sehr wahrscheinlich Leitungswasser, wenn nicht gar Wasser direkt aus dem Ayeyarwaddy erworben habe.
Dann kommt auch der Alte, der mir meine Kabine gezeigt hat, noch zum Zug. Nachdem er mich etwa 46 mal gefragt hat, erstehe ich eine halbvolle Packung Zigaretten, obwohl ich für diese als Nichtraucher so gar keine Verwendung habe. Nach etwa einer Stunde legen wir ab; junge Männer lösen die schweren Knoten und springen dann im letzten Moment an Deck. Flussabwärts gleitet das alte Schiff nun durch das braune Nass in Richtung Westen. Ziel ist die Stadt Pathein, mitten im Delta des grossen Ayeyarwaddy, der Reiskammer Südostasiens gelegen.
Eine Schar Möwen folgt uns noch ein paar Kilometer weit und frisst begierig, was sie kriegen kann. Zunächst zieht der Moloch Yangon behäbig an uns vorüber, noch lange kann man die goldene Shwedagon-Pagode in der Ferne ausmachen. Dann wird es am Ufer des Ayeyarwaddy nach und nach ruhiger. Kleine Bambushütten ersetzen die grossen Betongebäude, Palmen und Mangroven die Uferbefestigung. Fischer ziehen in schmalen Holzbooten an uns vorüber. Am sandigen Ufer baden Wasserbüffel, Kinder planschen nackt in den schlammigen Fluten. Grosse Gruppen weisser Vögel bevölkern die Baumkronen am Ufer und stieben auf, wenn die Kinder im Unterdeck des Schiffes klatschen. An Bord stellt sich eine äusserst angenehme Ruhe ein; jeder hat sich damit abgefunden, dass die nächsten Stunden nur dem Transport von einem Ort zum anderen dienen. Eine Art Lücke in der Zeit, welche die Geschäftigkeit schlagartig einen Gang herunterschaltet.
Das gesamte Unterdeck ist voller Menschen. Vorsichtig muss man einen Fuss vor den anderen setzen, um den Wust aus schlafenden oder essenden Menschen, Tieren in Käfigen, Säcken, Kisten und Töpfen zu durchqueren. Wieder einmal zeigt sich in einer solchen Szenerie der buddhistische Gleichmut, wenn Menschen praktisch durch das Schlaflager eines anderen laufen. Kein böses Wort, nicht einmal ein mahnender Blick. Duldsam weicht jeder gerade so weit aus, wie er muss: nichts, worüber man gross reden müsste, und schon gar nichts, worüber es sich aufzuregen lohnen würde.
Ich bin völlig gebannt von der Stimmung an Bord und verbringe keine Minute mehr als nötig in meiner schimmligen Kabine. Oben an der Reling stehend weht mir eine erfrischend kühle Brise ins Gesicht. Das Boot blubbert gemächlich übers glatte Wasser des immer breiter werdenden Ayeyarwaddy, die unbarmherzige Sonne hat ihre Strahlkraft bereits deutlich verringert, und die rotglühende Scheibe beginnt nun langsam die Wipfel der Palmen zu berühren.
Die Menschen an Bord essen aus mitgebrachten, zusammensteckbaren Metalltöpfen, sie rauchen, sie spielen Gitarre oder Brettspiele. Säuglinge liegen in Tücher gebettet zwischen den Töpfen, Kleinkinder klettern in der Nähe der Reling rum. Alles, was nicht mehr gebraucht wird – Tüten, Essensreste, Betelspucke – wird kurzerhand über Bord in die Fluten geworfen. Über allem liegt eine fast meditative Ruhe, das gleichmässige Tuckern des mächtigen Schiffsaggregats trägt seinen Teil dazu bei.
Ich bin gerade im Begriff den Sonnenuntergang über dem Ayeyarwaddy zu fotografieren, als mich einer der Mönche in den roten Roben anspricht, der Novize U-Do aus meiner Nachbarkabine. Nach ein paar Minuten interessierter Unterhaltung erzähle ich ihm von meinem Meditations-Retreat im Goldenen Dreieck vor ein paar Jahren. Er berichtet mir seinerseits, dass er von einer Meditationsschule in Yangon kommt und mit einer 40-köpfigen Delegation zum Unterrichten im Flussdelta unterwegs ist.
„Would you like to discuss meditation with the teacher?“ Eine Frage, die nur wenige Antworten zuzulassen scheint. Bedächtig schlurfend führt mich der kahlgeschorene Mönch aufs Oberdeck, wo zwischen ordentlich aufgereihten Bastmatten zwei weitere Rotgewandete auf einem hölzernen Podest im Lotus-Sitz ruhen und starr geradeaus schauen. Man platziert mich auf dem Podest neben den beiden und schenkt mir grünen Tee ein; in Zeitlupe wendet sich der Lehrer mir mit einem erhabenen Lächeln zu. Ich erfahre von ihm in gutem Englisch, dass er ein international angesehener Meditationslehrer ist, der viel um die Welt reist, um seine Lehre zu verbreiten. Nach dem Aufenthalt im Ayeyarwaddy-Delta gehe es schon bald in die USA. Sehr behutsam und mit teils minutenlang scheinenden Pausen erklärt er mir, worum es bei der Meditation wirklich geht.
Das Credo ist: „Only misunderstanding is true.“ Mit anderen Worten: Alles, was wir für wahr halten, ist nichts weiter als eine Illusion, entstanden durch die unvermeidliche Verfälschung durch unsere Sinnesorgane. Das, so sagt er mit Nachdruck, gelte es immer im Gedächtnis zu behalten. Ausserdem: Ohne Weisheit keine Mediation, ohne Meditation keine Weisheit. Mitten in der Unterhaltung schrillt sein Handy mit einem aufdringlichen Klingelton. Dies jedoch stellt für ihn offenbar keinen Widerspruch zu seiner Entrücktheit dar. Schnell handelt er das Gespräch ab, dann wendet er sich wieder mir zu und nimmt sich sehr viel Zeit beim Formulieren seiner Sätze. Beschwingt begebe ich mich nach einer halben Stunde Dharma-Talk wieder ein Deck tiefer. Diese Flussreise ist wahrlich ein Abenteuer. Ich als einziger Westler auf diesem rostigen Schiff voller Menschen, die exotischer kaum anmuten könnten. Inmitten von kräftigen Gerüchen, die ich nicht einordnen kann, Lauten, die ich nicht verstehe, und Gesten, die ich nicht zu deuten vermag.
Ich frage unter Deck nach Essen, aber leider gibt es ausser Fischchips nichts zu kaufen. Ich akzeptiere diese jedoch als Abendessen, denn ich habe selbst leider nichts mitgebracht.
Inmitten der Melange aus Menschen und Waren steht ein Mann und versucht lautstark etwas zu verkaufen. Ich werde neugierig, und versuche unter den Umstehenden herauszufinden, was er an den Mann und die Frau zu bringen versucht, aber niemand kann mich verstehen. Da sagt der Verkaeufer plötzlich laut zu mir gewandt: „Lotion for skin“. In Sekundenschnelle drehen sich alle Köpfe der etwa 70 Menschen nach mir um und schauen mich staunend an, als hätten sie mich soeben erst bemerkt. Wer ist hier nun der Exot? Alles eine Frage der Perspektive.
Die Nacht ist angebrochen. An den Ufern des Ayeyarwaddy leuchten grosse Feuer, der Geruch des Rauches weht übers Wasser. Lange Schwaden vor dem rötlichen Hintergrund, gespickt mit den Konturen von Palmen und hier und da einer Pagode, bieten ein fantastisches Panorama. Fischer sitzen mit blinkenden Lichtern in ihren Booten, die Netze weit ausgeworfen, geduldig auf ihren Fang wartend. Der Fahrtwind ist sehr angenehm, die Geschwindigkeit des Bootes bleibt stets die gleiche gemächliche. Es fühlt sich an, als habe ich mit dem Boot eine persönliche Freundschaft geschlossen.
An Bord schlafen nun die meisten; viele liegen in Positionen, die nicht gerade gemütlich anmuten, eingezwängt zwischen Gepäck und Reling, am Fusse der Treppen zum Oberdeck oder vor den Latrinen, die mit Flusswasser gespült werden. Ich stehe an der Reling und mache absolut nichts. Ein Hochgefühl macht sich breit; das sind doch letztendlich die Momente, die man als moderner Reisender sucht: Einfachheit, Klarheit, Ursprünglichkeit.
Eine hübsche junge Frau spricht mich in Oxford-Englisch an. Deborah, eine Christin aus Yangon, ist unterwegs zur Hochzeitsfeier ihrer Schwägerin in einem Dorf im Delta. Da die Burmesen generell wenig reisen, sind sie sehr anfällig für Reisekrankheit in Bussen. So ist das Boot über den Ayeyarwaddy die etwas angenehmere Alternative, erzählt sie mir. Sie berichtet von ihrer Familie und ihrem Job als Haushälterin bei einem holländischen Unternehmer, der ihr astreines Englisch erklärt. Nach und nach gesellen sich noch mehr Familienmitglieder zu unserer Runde, erst die Nichte, dann die Tante, daraufhin noch entferntere Verwandte. Allesamt sind sie sehr liebenswürdig und wir quatschen uns einfach so durch die Abendstunden. Als sie erfahren, dass ich noch nichts zu essen hatte, geht ein regelrechter Aufschrei durch die Familie und man besorgt mir umgehend verschiedene Leckereien aus dem mitgebrachten Familienproviantkorb.
Stundenlang stehen wir an der Reling und reden über Gott und die Welt, während die Nichte und ihre Freundin leise Myanmar-Hip-Hop-Lieder singen und den Jungen auf dem Unterdeck verschämt Avancen machen. Ich schenke Deborahs Tante die Zigaretten, die ich zu Anfang der Reise erstanden habe, und so schliesst sich der Kreis auch hier. Nachdem ich eine Einladung zum Familientreffen in Yangon nach meiner Rückkehr aus dem Westen bekommen habe, gehe ich in meine Kabine und schlafe selig ein.
Im Morgengrauen erwache ich, und sehe gerade noch, wie Deborah und ihre Familie winkend das Boot verlassen. Dann beobachte ich eine Stunde lang aufmerksam, wie die Leute Waren ein- und ausladen, eine geölte Maschinerie aus kräftigen braunen Männern in Longyhis und Unterhemden. Sobald alles von Bord ist, kommt sofort die Heerschar von Verkäufern zum Boot gesprintet. Jeder will der erste sein, der den Passagieren seine gerade zuhause zubereiteten Speisen feilbietet. Ich kaufe ein paar frische Samosas, frittierte Gemüsetaschen, die köstlich schmecken. Plötzlich beginnt jemand unvermittelt, mir von hinten den Nacken zu massieren. Ich drehe mich leicht erschrocken um, und sehe ein altes hutzeliges Männchen, dessen Kraft in den Unterarmen im krassen Kontrast zu seiner Erscheinung steht. Ich lasse mich auf die Knetbewegung ein und geniesse die Auflockerung meiner Knochen nach den Stunden auf der harten Liege meiner Kabine, obwohl ich schon jetzt weiss, dass er dafür sicher ein Vermögen aufrufen wird.
Auch ist mir bereits klar, dass sich die Ankunft wohl um ein paar Stunden verzögern wird, denn den Hochzeitsort von Deborahs Familie hätten wir laut Fahrplan schon um 2 Uhr morgens erreichen sollen. In einer mir neuen, deutlich gedrosselten Geschwindigkeit gehe ich auf ein Neues aufs Unterdeck, wo es jetzt etwas geräumiger zugeht.
Während wir im Sonnenaufgang an Palmenhainen, Reisfeldern und goldenen Pagoden entlang des Ayeyarwaddy vorbeifahren, sitze ich am speckigen Holztresen des ‚Bordrestaurants‘ und rühre mir in einer fleckigen Plastiktasse einen Instant-Kaffee an. Ein junger Mann will mit mir Whisky trinken, ich lehne dankend ab. Stattdessen winke ich einem der Betelnussverkäufer.
Ich habe den Prozess bereits mehrfach beobachtet. Auf einem grünen Blatt wird eine Paste aus Limetten verteilt, dann streut man die zerstossene Betelnuss sowie etwas Kautabak darauf und faltet das Blatt sorgfältig. Die Menschen schieben sich diese Päckchen dann komplett in den Mund und kauen ausdauernd darauf herum, während sie ohne Unterlass den roten Saft ausspucken, der dabei entsteht. Nahezu jeder Mann und auch viele Frauen in Myanmar gehen diesem Hobby nach, wovon ihre roten Zähne und die mitunter blutroten Lippen zeugen. Doch dafür bin ich noch nicht bereit. Stattdessen erwerbe ich zum ersten mal eine Handvoll Cheroots, lange grüne Zigarren, die hauptsächlich von Frauen geraucht werden, für umgerechnet einen Cent das Stück. Ich paffe an der Reling stehend vor mich hin, und entlocke so dem Einen oder Anderen ein amüsiertes Lächeln.
Kuna, Tiuesto, Pota und Sua Sule, drei Jungs und ihre Mutter gesellen sich zu mir, als ich meine in Bangkok erworbene Gitarre auspacke und ein paar Lieder spiele. Daraufhin zeige ich ihnen meinen Reiseführer, und sie bringen mir bei, wie man die einzelnen Orte ausspricht. Der Kleinste lässt mich nicht eine Sekunde aus den Augen; jede meiner Bewegungen verfolgt er gebannt, als würde er ein wahrlich seltsames Wesen beobachten.
U-Do ruft mich von oben zum Lunch, und ich bekomme von der Meditationsgruppe tellerweise Huhn, Fisch, unidentifizierbare Saucen und den allgegenwärtigen grünen Tee aufgetischt. Die beiden Lehrer sitzen derweil erhaben auf ihrem Podest und lesen die internationalen Nachrichten in der Tageszeitung. Ich bedanke mich immerzu, aber man versteht offenbar gar nicht so recht, was es denn da zu bedanken gibt. Auf dem Weg nach unten nähert sich mir ein gebückt gehender Greis und schenkt mir zahnlos lächelnd zwei Kaffeebonbons. Es ist nicht das erste Mal, dass mich die Freundlichkeit der Menschen hier fast zu Tränen rührt.
Unten trinke ich einen weiteren Kaffee, der Whiskytrinker hat sich seinen Schlaf nun offenbar endlich erkämpft und ist verschwunden. Eine Gruppe Menschen speist neben mir Reis und Currys, und bietet mir sofort etwas davon an. Ich habe Mühe, ihnen klarzumachen, dass ich schon von den Mönchen reichlich beschenkt worden bin, und beim besten Willen nichts mehr essen kann. Doch nach viel Lächeln und Gestikulieren bin ich irgendwann entschuldigt. Ich frage den Mann hinter der Theke und seine Mitarbeiter nach der voraussichtlichen Ankunftszeit und bekomme sehr unterschiedliche Angaben. Mittlerweile ist es mir jedoch mehr als egal, wann diese Fahrt zu Ende geht. Zeit ist ein wahrlich dehnbarer Begriff.
Gegen 17 Uhr laufen wir dann schliesslich in den Hafen von Pathein ein, das in Rauchschwaden gehüllt und mit mehreren in der Nachmittagssonne blitzenden Pagoden in einer Kurve des Ayeyarwaddy liegt. Gesagt hat man mir vor der Abfahrt, dass wir unser Ziel um 11 Uhr morgens erreichen würden. Durch ein Heer aus Fischerbooten bahnt sich der Dampfer einen Weg zur Anlegestelle, wo bereits eine stattliche Menschenmenge auf unsere Ankunft wartet. Ich schiebe mich vorbei an Lastenträgern und Körben, und besteige eine Fahrradrikscha ins Zentrum.
Die Frage nach der Weiterreise hat sich erst mal erübrigt, denn die Sonne macht sich bereits auf ein Neues auf den Weg in Richtung Palmenwipfel. Daher bleibe ich für eine Nacht in Pathein, dass sich als ein entzückendes Städtchen mit wahnsinnig gastfreundlichen Menschen entpuppt. Besonders die Reise dorthin jedoch werde ich so schnell nicht vergessen.
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