Ausgeknocked und ausgeraubt – Athen, wie man es niemandem wünscht

Ein Flashback. Es muss ein Flashback sein. Das ist die einzig logische Erklärung.

Das Wasser der Dusche prasselt eiskalt auf meinen Kopf. Und doch kann ich nach wie vor nicht einen klaren Gedanken fassen. Es ist nicht wie bekifft sein. Es ist eher so, als hätte ich einen Teil meines Gehirns eingebüßt. Einige Areale fühlen sich an wie abgestorben.

Plötzlich schwarz. Schon wieder einer jener Momente, von denen mir nur kurz später jegliche Erinnerung fehlen wird. Seit ein paar Stunden häufen sich diese.

Ich trockne mich hastig ab. Zwar verstehe ich nicht im Ansatz, was hier vor sich geht. Und doch will ich Athen jetzt auf dem schnellsten Wege verlassen. Um jeden Preis. Ja, es grenzt an einen Wahn. Und doch tue ich nichts, um gegen diesen anzukämpfen. Wir MÜSSEN auf die Kykladen, noch heute. Warum, das kann ich nicht erklären. Doch ich weiß, dass es so ist. Und mein Freund Martin weiß es auch. Als wir beide vor ein paar Stunden begannen, uns wie Zombies zu fühlen, haben wir beschlossen, einfach schnell hier abzuhauen. Hafen – Boot – Kykladen. Simple as that. Es gibt keine Alternative zu diesem Plan. Wir sind besessen.

Schwarz. Ganz kurz nur. Wie eine Art Schatten.

Und schon finde ich mich im Eingangsbereich des Hostels wieder, Martin an meiner Seite. Er sieht nicht gut aus. Seine Augen machen mir Angst. Erinnerungsfetzen flackern kurz auf, tief hinten in meinem Kopf: Wir sassen auf der Dachterrasse. Wir blinzelten in die Sonne. Dann kam dieser Hippie-Schweizer mit dem Tablett. Es sei sein Geburtstag. Ob wir ein Stück Kuchen wollten. Wer hätte da schon nein gesagt?

Schwarz.

Dann war der Schweizer weg gewesen. So plötzlich, wie er aufgetaucht war. Und aus meinem Kuchenstück rieselte ein weißes Pulver, das da irgendwie nicht hinein gehörte. Ich ließ den Rest meines Stückes in die Mülltonne gleiten. Und blickte fragend zu Martin. Er hatte seines schon aufgegessen. Ganz.

Kurz später hatte es dann angefangen, dieses Gefühl, als würde uns etwas die Hirnmasse aus den Schädeln saugen.

Schwarz. Schon wieder. Für etwas länger diesmal.

Wir stehen nun mitten auf der Strasse. Wie sind wir hierher gekommen? Egal. Die Rucksäcke haben wir jedenfalls auf. Martin sieht bleich aus, wirkt blutleer. Er schwankt. Und was ich zu ihm sage, scheint er nicht zu verstehen. Ich weiss nicht, ob das an ihm liegt oder an mir. Ich habe genug damit zu tun, meinen eigenen Körper unter Kontrolle zu behalten.

Zwei bärtige Männer erscheinen aus dem Nichts. Sie fragen, wo wir hinwollen. Zum Hafen, nuschele ich. Was für ein Zufall, sagt der eine. Da fahren wir auch hin. Meine Intuition bäumt sich schmerzverzerrt auf. Sie will mir etwas sagen. Etwas Dringendes. Ich höre nicht hin. Stattdessen macht sich Dankbarkeit dafür breit, dass wir nun nicht mehr laufen müssen. Kurz nicht mehr denken müssen. Ich kann kaum mehr einen Finger rühren. Kontrollverlust.

Schwarz. Schwer zu sagen, für wie lang.

Martin schläft neben mir auf der Rückbank. Wo sind unsere Rucksäcke? Schon beim letzten Wort habe ich die Frage wieder vergessen. Die Männer sprechen hektisch, klar und emotionslos. Griechisch vermutlich. Zumindest nichts, was ich verstehen kann. Ihre Worte wabern zusammenhanglos durch meinen Kopf. Doch da. Da ist ein Wort, das ich erkenne: Kaffee sagen sie. Sie müssen es mehrmals wiederholen, bevor ich es verstehe. Doch dann. Ein Heilsversprechen. Endlich wieder meine Augen offen halten können. Endlich wieder denken können. Kaffee? Ja, rufe ich. Fast lautlos, wie sich herausstellt.

Schwarz. Die Längen der Blackouts und der Wach-Momente scheinen sich anzugleichen.

Man reicht mir einen Plastikbecher nach hinten. Ich trinke. Und erhoffe mir nichts als etwas Klarheit. Etwas Energie. Nicht verrückt zu werden vielleicht. Doch der Kaffee schmeckt bitter. Wirklich bitter.

Schwarz. Ziemlich lang diesmal.

In meinem Traum greift mir jemand in die Tasche und zieht mein Portemonnaie heraus. Ich will mich wehren, aber ich kann mich nicht bewegen. Typisch für einen Traum. Doch dann die schlagartige Erkenntnis: Dies ist kein Traum. Ich öffne die Augen. Und sehe noch, wie der Mann auf dem Beifahrersitz mein Portemonnaie ins offene Autofenster hineinzieht. Er hat es nicht eilig. Ich stehe neben dem Auto, doch ich kann mich nicht rühren. Er weiß das. Ich will schreien. Und gebe doch nur ein kaum hörbares Nein von mir. Der Fahrer drückt aufs Gas.

Schwarz. Nur noch einmal. Kürzer diesmal.

Ich bin wieder da. Fast vollständig. Schluss mit den Schatten. Ich kann es spüren. Das Schlimmste ist vorbei.

Und doch bleibt es weitgehend schwarz um uns herum. Wir befinden uns in einem Wald, weit von der Stadt entfernt. Am Horizont schimmern verhalten Lichter. Zikaden zirpen, Pinienzapfen knacken unter meinen Füssen. Ansonsten Stille. Und Dunkelheit. Neben mir stehen unsere Rucksäcke. Die Diebe haben sie offenbar ausgeladen. Neben den Rucksäcken steht Martin. Der erste Blick offenbart, dass er noch nicht aus dem Land der Träume zurückgekehrt ist. Er wirkt wie eine seelenlose Hülle.

Ich kontrolliere meine motorischen Fähigkeiten. Es geht. Es MUSS nun gehen. Denn ich muss uns hier irgendwie raus bringen.

Mit der einen Hand schnappe ich mir die Rucksäcke, mit der anderen Martin. Wir müssen auf Zuschauer wirken wie Kriegsversehrte. Nur, dass es hier draußen nicht einen einzigen Zuschauer gibt.

Wir brauchen eine ganze Weile, bis wir aus dem Wald raus sind. An der Strasse angekommen lege ich die Rucksäcke in den Graben. Dann lehne ich Martin daran an. Und hebe meinen Daumen. Tatsächlich. Das erste Auto stoppt. Es ist ein Taxi. Wir haben kein Geld mehr, alles ist weg. Und keine Ahnung, was mit uns passiert ist. Wir müssen schrecklich aussehen. Der Fahrer bringt uns kostenlos bis zum Hostel.

Epilog:

Diese Geschichte – konkurrenzlos die schlimmste Geschichte aller meiner Reisen – ereignete sich im Sommer 1995. Nachdem Martin und ich unter argwöhnischen Blicken erneut im Hostel eingecheckt hatten, schliefen wir erst mal fast 15 Stunden lang durch. Am nächsten Nachmittag versuchten wir zu rekonstruieren, was geschehen war. Martin hatte keinerlei Erinnerung an die vergangenen 24 Stunden. Nichts. Und so basierten alle Spekulationen lediglich auf meinen bruchstückhaften Erinnerungen.

Es musste mit dem Schweizer zu tun gehabt haben. So viel stand wohl fest. Doch war er auch derjenige, der nun im Besitz unseres gesamten Geldes, unserer Kreditkarten und unserer Pässe war? Zweifelhaft. Hatte ich mit dem Kaffee im Auto noch ein zweites Betäubungsmittel zu mir genommen? Durchaus plausibel.

Fünf Tage lang hingen wir wie verkatert im Hostel herum und warteten auf die vorübergehenden Pässe vom deutschen Konsulat. Die Rezeption konnte uns nicht dabei helfen. Wollte uns nicht helfen. Auch nicht dabei, final zu klären, was uns widerfahren war. Es schien im Grunde niemanden zu interessieren außer uns selbst. Zwischendurch vermittelte man uns fast das Gefühl, WIR seien die Kriminellen.

Der ominöse Schweizer tauchte nie wieder auf. Und so werden wir vermutlich nie erfahren, mit welcher Substanz er uns auf diesen einmaligen Trip geschickt hat.

Als Martin und ich schließlich auf den Kykladen ankamen, beschlossen wir, einen Schlussstrich unter die gesamte Geschichte zu ziehen. Wir waren am Leben, wir hatten wieder Identitäten, und ein bisschen Geld war auch noch übrig. Das Bier war günstig und die Sonne knallte vom Himmel. Hatte jemand Abenteuer gesagt?!

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17 Kommentare

  • Meine Güte, was für ein mieses Erlebnis. Das braucht echt keiner, weckt aber böse Erinnerungen auch bei mir.
    Scheinbar war Athen in den Neunzigern noch ein heißes Pflaster. Wir wurden damals auch komplett ausgeraubt (zum Glück ohne Betäubung und Gewalt) als wir eine Nacht dort total naiv am Bahnhof verbracht haben.
    Das war mein erster Rucksackurlaub mit 16 und dann gleich sowas… Zum Glück haben uns extremst hilfsbereite, höfliche Israelis aus der Patsche geholfen und wir mussten den Trip auf die Kykladen nicht abbrechen.

    • Echt, Eva?! Ich dachte immer, wir hätten uns damals die einzigen Gangster Griechenlands rausgesucht! Gut, dass es bei Dir auch glimpflich ausgegangen ist. Alle anderen meiner Erfahrungen in Griechenland waren übrigens echt toll!
      Safe travels,
      Marco

    • Hey Melanie, ja, ist sie tatsächlich. Hat uns damals auch ganz schön verstört. Wobei man ja sagen muss, dass es auch noch schlimmer hätte laufen können.
      Safe travels!
      Marco

  • Hey Marco,
    ganz üble Geschichte!
    Wobei man fast noch sagen könnte, dass ihr wohl Glück hattet. Hätte sicher auch schlimmer enden können…
    Schön, hast du’s weiter geschafft :)
    Auf dem paradiesischen Bali hatte ich eine ähnliche, aber nicht ganz so krasse Erfahrung. Aufpassen wer neben einem Sitzt – die „Mädels“ sind da nicht zimperlich mit K.O. Tropfen. Das gibt nen Kater vom andern Stern…
    Gruss
    Patrick

    • Hey Patrick, ich sehe die Sache auch so, dass wir Glück im Unglück hatten. Es waren irgendwie ‚faire‘ Diebe, wenn man das sagen kann. Klingt Dir die Erfahrung danach, als wären das auch K.O. Tropfen gewesen? Ich versuche immer noch herauszufinden, was genau man uns verabreicht hat… Der Kater war jedenfalls in der Tat schrecklich. Und dauerte mehrere Tage lang an!
      Safe travels,
      Marco

      • Du hattest ja geschrieben, dass weisses Pulver aus dem Kuchen gebröselt ist. Wenn das kein Puderzucker war, dann glaub ich weniger an K.O.-Tropfen.
        Wobei deine Schilderungen schon gut drauf passen könnten =/
        However – survived und ne weitere Geschichte in Petto :)

  • Hi Marco,
    wahnsinnig gut geschrieben und eine heftige Geschichte. Unfassbar was alles passieren kann …
    Wie seid ihr denn anschließend wieder an Geld gekommen? Oh je, was für ein Drama. Und das alles nur für ein paar Geldbörsen …

    • Danke, Steven!
      Ich glaube, wir hatten damals noch Traveler’s Cheques dabei (hah hah, die guten alten Zeiten!), die wir in weiser Voraussicht in den großen Rucksäcken versteckt hatten.
      Ich habe mich oft gefragt, ob auch mein Pass damals noch für irgendwen eine Verwendung gefunden hat, zum Beispiel für einen illegalen Grenzübertritt.
      Das schrägste an der Geschichte finde ich ja, dass man sie eher in Afrika oder Asien verorten würde, sie aber im idyllischen Griechenland passiert ist! ;-)
      Safe travels,
      Marco

  • Wow, was für eine heftige Story, da meint man echt man liest ein Buch und nimmt nicht an das es Realität ist…………….
    Du hast eine sehr interessante und gute Schreibweise.

    Ich hoffe du bleibst auch zukünftig von solche Erfahrungen verschohnt.

    Ps. dein Blog ist echt toll und interessant!

    LG
    Laura

  • Hey, ich bin auf kreta mal von einer griechischen „freundin“ um 100 Euro erleichtert worden, zumindest schien mir das im nachhinein die wahrscheinlichste erklärung für das verschwinden des geldes.
    Ich hatte die geldkatze in der nacht unter meiner isomatte vergraben, direkt drauf geschlafen, und mich am nächste morgen gewundert, warum da eine mulde ist…
    Die neue „freundin“ hatte neben mir geschlafen, und mich dann eine nacht später zum teufel geschickt, sie hiess übrigens zeta. 100% sicher bin ich mir zwar nicht, wenn da nicht dieses komische gefühl wäre…
    Ist jedoch angenehmer als in thailand von einer tollwütigen ( vermutlich auf „yaba“ =amphetamine) mit einer Eisenstange auf den Kopf geschlagen zu werden, im beisein eines extra von ihr gerufenen polizisten…
    Das ist wie eine Exekution, denn wenn ich zurückgeschlagen hätte, wäre ich nur gegen eine saftige Kaution wieder frei gekommen, welche sich die Polizei und die Restaurantbesitzerin geteilt hätten.
    Also falls ihr in Khao Lak seid, macht lieber einen grossen Bogen um Ga’s Restaurant links vom 7/11 !
    Das absurde ist , die Frau hat während des Streits permanent gelächelt .
    Der Grund war übrigens ziemlich nichtig, ich hatte die Klimaanlage für abends programiert, und sie dachte wohl sie wäre den ganzen tag gelaufen…
    Grüße Steffen

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