Das war keine gute Idee!
Wie hatte ich eigentlich dem Irrglauben erliegen können, dass diese Art der Unterhaltung in irgendeiner Hinsicht für Westler konzipiert wäre?! Ich sitze in einer hölzernen Gondel, die etwa 12 Meter über dem von Menschen übersäten Boden schwebt. Sie hängt an dünnen Armierungsstäben aus Eisen, die wiederum mit jeweils zwei Schrauben an nur unwesentlich dickeren Eisenstreben angeschraubt sind. Diese, und nur diese scheinen das Riesenrad aus Holz zusammenzuhalten.
Jede ein- oder aussteigende Person am unteren Ende des Rades lässt unsere Gondel in luftiger Höhe energisch hin-und herpendeln. Sie hängt zudem bedenklich zu meiner Seite; ich befürchte, ich wiege alleine so viel wie die drei gutfrisierten Einheimischen neben mir, die mich gerade belustigt beäugen und ein weiteres mal darum bitten, von mir fotografiert zu werden. Sehr gerne würde ich jetzt und in diesem Moment aussteigen, dabei hat die Fahrt noch gar nicht begonnen. Noch werden die Gondeln eine nach der anderen in die unterste Position gebracht, und dort sorgfältig bis zum Limit ihrer Kapazität mit erlebnishungrigen Menschen vollgestopft.
Erst von hier oben kann ich erkennen, dass das gesamte Riesenrad lediglich mit ein paar Holzkeilen im sandigen Boden gesichert zu sein scheint. Sollte ich mit geschlossenen Augen und nur vom Gefühl her beschreiben, aus welchem Material diese Hauptattraktion des dreitägigen Jahrmarktes wohl gebaut ist, wäre mein erster Tipp vermutlich Streichhölzer. Der Ausblick ist auf seine schräge Art recht hübsch. Neben dem für europäische Verhältnisse eigentlich kleinen Riesenrad erstrecken sich die Stände mit dampfendem Essen und die aufgebahrten Spielzeuge und Klamotten zu 50 Cent an bunten Kleiderbügeln. In regelmäßigen Abständen eingestereut befinden sich die CD-Stände, die ihre Boxen, wie es landesüblich ist, bis zum Anschlag aufgedreht haben, sodass jedes Lied bis zur Unkenntlichkeit verzerrt ist. Noch von hier oben ist es so laut, dass ich mich frage, wie der Verkäufer am uns nächstgelegen Stand allen Ernstes einen Meter von der Box entfernt ein Nickerchen halten kann.
Doch alles in allem dringen die Eindrücke nur gedämpft zu mir durch. In meinem Kopf formiert sich der mächtige Wunsch, dass dies alles so schnell wie möglich vorbei gehen möge, und ich wieder sicheren Boden unter den Füssen habe. Ich fühle mich wie früher als Kind, wenn ich auf einen riesigen Baum geklettert war, ohne auch nur einmal zurückzusehen. Oben angekommen blickte ich mich dann um, und hatte sofort keinen blassen Schimmer mehr, wie man da jemals wieder runter kommen sollte. Kurz befürchte ich, dass die Teenager neben mir nun ihrem Ruf alle Ehre machen und anfangen werden, die Gondel noch zusätzlich zu schaukeln, aber offenbar können auch sie glücklicherweise eins und eins zusammenzählen und wissen, dass diese Konstruktion eine solche Verwindung vermutlich nicht lange verkraften würde. Es knarzt und quietscht an allen Ecken und Enden.
Der Tag war doch so toll gewesen: Auf einem Mopeddtaxi hatte ich mich zum zwei Stunden entfernten Strand Ngwe Saung Beach fahren lassen, einem der schönsten Strände, die ich je gesehen hatte. Doch schon der Weg war ein unvergleichliches Erlebnis. Es ging immer direkt auf dem Strand entlang und mein Fahrer cruiste gemächlich dahin, für ein paar Kyat. Immer wieder mussten wir über Flussmündungen übersetzen, wobei sogar das Moped auf aufs Boot verladen wurde. Auch der Abend hatte ganz gut angefangen. Auf einer Terrasse am Strand hatte ich zunächst fürstlich gespeist, und dann bei ein paar Whisky Sour mit einem deutschen Verschwörungstheoretiker und einem schlaksigen Spanier mit dem vollmundigen Namen Jesus einige Zeit lang ekstatisch musiziert.
Der Deutsche war zwar ein ausgesprochener Miesepeter, und damit meine ich, noch miesepetriger als Deutsche sich ohnehin meist schon gebährden, spielte aber grandios Saxophon. Ein Instrument, das für ihn wie geschaffen schien, denn wenigstens während des Spielens konnte er nicht sprechen! Der scheue Jesus hingegen hatte zunächst ein paar alkoholische Getränke zur Lockerung gebraucht, dann aber schon bald mit seinen in Flamenco-Manier wild wedelnden Armen den Laden zum Kochen gebracht. Wir planten, das Ganze später fortzusetzen, aber an meinem letzten Abend in Chaungtha wollte ich mir doch noch einmal das Riesenrad aus der Nähe ansehen, das ich nachmittags auf dem Fahrrad passiert hatte. Meine Gitarre für die Dauer meiner Abwesenheit einem spielwütigen Kellner übergebend, hatte ich sodann eine Fahrradrikscha in Richtung Jahrnarkt bestiegen.
Alle Menschen in den Gondeln um mich herum wollen von mir fotografiert werden. Das ist gut, denn es lenkt mich ab vom Gedanken daran, was eigentlich wäre, wenn das komplette Riesenrad nun kollabierte. Chaungtha ist ein kleines Dorf an der bengalischen Küste, ohne nennenswerte Infrastruktur und ohne jegliche medizinische Versorgung. Wie würde man die Verletzten auf dem beschwerlichen, unbeleuchteten Feldweg in die acht Stunden entfernte Hauptstadt bringen? Mopedtaxi? Fahrradrikscha? Pferdekarren? Da fällt mir auf, dass ich im ganzen Land bis dato noch keinen Krankenwagen gesehen habe.
Doch genug davon, die Aufregung unter den Passagieren bewegt sich ihrem Höhepunkt entgegen, denn alle Gondeln sind nun bis zum Bersten beladen. Und jetzt kommt das, was mich schon beim Zuschauen von unten unglaublich fasziniert hatte: Dieses Riesenrad ist wie so vieles in diesem seltsamen Land eine absolute Improvisation. Ich schätze, jemand hat einfach irgendwann mal mit einem aus einer Zeitschrift ausgeschnittenen Foto eines Riesenrades neben sich angefangen, Stahl und Holz mit ein paar alten Nägeln so zusammenzuhämmern, dass es der Abbildung möglichst detailgetreu ähnelt. Kopieren ist hier in Asien schließlich kein Delikt, sondern ein angesehener Beruf. Nicht umsonst gibt es beispielsweise in China für die Begriffe ‚Herstellen’ und ‚Kopieren’ nur ein einziges Schriftzeichen, was in Myanmar, einem Land ohne Copyright-Gesetze, vermutlich nicht anders ist.
Was bei der Kopie des Riesenrades jedoch irgendwie hinten runtergefallen sein muss, ist ein Antrieb, der das Teil schließlich dazu bringt, sich zu drehen. Dieses Versäumnis bringt nun sieben durchtrainierte junge Männer ins Spiel. Mit flatternden T-Shirts und in weißen Fussball-Shorts klettern sie flink wie kleine Gibbon-Äffchen den gesamten Weg bis zur Spitze des Rades. Unnötig zu erwähnen, dass keiner der Kletterer auch nur im Ansatz gesichert ist. Die meisten haben aus Bequemlichkeit zum Klettern ihre Flip-Flops anbehalten!
Oben angekommen verharren die allesamt verwegen dreinschauenden Jungs kurz um klarzustellen, dass jeder Passagier sich für die Fahrt wappnet und irgendwie selbst sichert. Gurte? Sicherungsbügel? Fehlanzeige. Eine Minute des Zuredens vergeht, bis ich verstanden habe, was sie von mir wollen. Irgendwo festkrallen soll ich mich, notfalls an meinem Sitznachbar. Alle etwa 80 Leute auf dem Riesenrad lachen mit mir und über mich. Dann geht es los.
Die Musik wird noch einen Tacken lauter gedreht; wer hätte gedacht, dass es da noch Spielraum gibt? Es läuft Euro-Dance mit Myanmar-Gesang, bei jeder Kickdrum zittert das filigrane Gerüst des Riesenrads wie ein Greis bei einem Malariaanfall. Und schlagartig bewegen sich die Jungs nun auf ein Kommando alle gleichzeitig auf eine Seite des Rades und geben ihm so den nötigen Schwung. Erst denke ich noch kurz, es wird einfach direkt auseinanderbrechen, doch dann fangen wir tatsächlich an, uns zu drehen, und das auch noch erstaunlich schnell. Die Lichter des Jahrmarktes fliegen nur so durchs Blickfeld und die Haare der jubelnden Leute wehen im Wind. Mir scheint, diese Fahrt ist für die Einheimischen einer der raren Momente von Sorglosigkeit. Das außergewöhnliche Erlebnis scheint sie ihre harsche Lebensrealität einfach mal kurz vergessen zu lassen.
Ich habe Mühe zu erkennen, was die menschlichen Motoren nun tun. Erst als ich meinen Kopf in der Umlaufbahn des Rades mitdrehe, kann ich sie allmählich fixieren. Die Jungs kraxeln hin und her, um den Schwung und die Drehung noch zu verstärken. Dann seilt sich einer nach dem anderen ab. Manche an einer Hand hängend, manche kopfüber an ihren Beinen baumelnd, finden alle genau den richtigen Moment, um in der Nähe des Bodens lässig abzuspringen. Mir wird klar, dass diese Jungs das burmesische Äquivalent zu den prolligen Typen sind, die bei uns stehend auf den Autoscootern mitfahren. Der coolste von ihnen hängt noch immer an seinem muskulösen Unterarm und lächelt in die Menge, als das Rad nach etwa 3 Runden langsam wieder zum Stehen kommt. Vermutlich wird er es sein, der zum Ende des Jahrmarkts gegen 22 Uhr die meisten Mädels zum Händchenhalten überreden kann.
Erleichterung macht sich breit. Das Riesenrad ist weder umgestürzt noch auseinandergebrochen. Keiner ist rausgefallen, und selbst die Musikanlage krächzt nach wie vor im selben Pegel. Jetzt muss ich nur noch darauf warten, dass meine Gondel wieder unten ankommt, dann kann ich endlich aussteigen.
Und dann aber schnell zurück zu meinem Instrument und einem kühlen Whisky Sour. Gitarre spielen mit ekstatischen Spaniern und quengelnden Deutschen beansprucht die Nerven doch deutlich weniger. Aber dieses sehr archaische Gefühl der unsäglichen Freude, noch immer am Leben zu sein, und das für gerade mal 300 Kyat, also umgerechnet 21 Cent, das war doch alles in allem ein wirklich guter Deal.
Mein Gesicht bietet vermutlich ein dümmliches Grinsen dar, als mir jemand aus einer über uns hängenden Gondel versehentlich seine Betelsäfte auf die Stirn rotzt. Doch sowas ficht mich momentan nicht an. Ich wische den roten Saft mit meinem Hemdsärmel weg und beteuere dem besorgten Spucker, die Attacke unversehrt überstanden zu haben. Dann entsteige ich der schwankenden, knarzenden Gondel.
Als ich zum Ausdruck meiner Erleichterung kurz so tue, als würde ich den von hunderten Füssen ganz plattgedrückten Grasboden küssen, lachen wieder alle über mich. Ich winke glückselig in die Menge und werfe mich ins Gedränge, wo ich den CD-Händler wachrüttele, um mir das neueste Myanmar-Eurodance-Album zu kaufen.
Dieser Artikel nimmt an der Blogparade „Die schönsten Strände Südostasiens“ teil.
Du willst mehr Geschichten aus Myanmar hören? Myanmar ist ein Land, was mich zu mehr Geschichten inspiriert hat als jedes andere:
- Eine Bootsfahrt auf dem Ayeyarwaddy
- Yangon – Der Wahnsinn um den Ort der inneren Einkehr
- Im Zug durch halb Myanmar
- Der Geisterritt auf dem Wasserbüffel
- Im Pick-Up nach Pyin U Lwin
Du willst noch mehr Geschichten aus aller Welt? Hab ich auch!
Hallo, ich habe gerade deine website entdeckt, als ich mich über Vietnam schlau machte.
Gratuliere, du schreibst sehr amüsant und treffsicher. Auch deine Fotos sind eine Inspiration für mich. Mal schauen, was ich so an Bildern fabrizieren werde und ob mein Reisebericht auch so unterhaltsam wird.
LG Sabine
Hi Sabine, vielen Dank für Dein Lob, das freut mich sehr! Gib doch mal Bescheid, wenn Dein Reisebericht fertig ist. Würde mich interessieren! Liebe Grüße, Marco