Holy Cow – Die schlimmste Busfahrt meines Lebens

Anjuna Flohmarkt

Wir hatten nicht erwartet, dass der Bus pünktlich kommen würde. Das wäre bei all dem, was wir in den letzten Wochen in Süd-Indien erlebt haben, nun wirklich unfassbar naiv gewesen. Doch jetzt ist das Gefährt, das uns von Goa ins Inland bringen soll, bereits 3 Stunden überfällig. Das zumindest ist ein neuer Rekord.

Aber ich bin in guter Gesellschaft. Abgesehen von meinem Mainzer Mitbewohner Daniel sind da noch der Kanadier Rennie, der Japaner Eijiro sowie der Däne Charsten. Rennie ist ein sorgloser Eishockeyspieler, der abends gerne mal seine künstlichen Frontzähne herausnimmt und die schrägsten Geschichten zu erzählen weiß. Eijiro reist zum ersten Mal und könnte es uns zu verdanken haben, dass er überhaupt noch am Leben ist. Er möchte gerne alle Drogen der Welt probieren, weiß aber nichts über auch nur eine davon. Als wir ihn am Strand fanden, war er gerade auf der Suche nach einer Spritze. Charsten verkörpert die Vaterfigur in der Gruppe. Er geht auf die 50 zu und ist ein Maler, dem zuhause die Decke auf den Kopf gefallen ist. Erst nach einigen Drinks wird nachts klar, dass er einen noch viel größeren Dachschaden hat als wir alle zusammen.

Hütte am Strand von Goa
Isn’t it all about people?

Wir wollen nach Hampi, über das in den letzten Wochen jeder gesprochen hat, den wir kennenlernten. Viele Informationen haben wir nicht, aber da es ohnehin auf dem Weg zurück an die Ostküste liegt, wollen wir uns den Ort ansehen. Er soll absolut abgeschieden liegen und gesäumt sein von Felsen und Ruinen einer alten Tempelstadt.

Während wir hier so saßen in den letzten Stunden, begann und endete ein Fußballspiel der regionalen Liga. Dies war der untrügliche Beweis dafür, dass wir hier schon viel zu lange rumhingen. Das Spiel konnte man durchaus als spannend bezeichnen, aber als es vorbei war, war noch immer kein Bus aufgetaucht. Vom süßen Tee stiegen wir schnell auf Bier um, aber nun, da die Fußballspieler auch wieder weg sind, wissen wir nicht mehr so richtig etwas mit uns anzufangen.

Menschen bei einem Fussballspiel in Goa
Das Fussball-Spiel, damals noch analog fotografiert.

Wir sitzen in einem typisch indischen Setting. Ein paar Plastikstühle, zum größten Teil bereits kaputt, bilden ein Café auf einem staubigen Platz vor einer Häuserzeile. Ein dunkler, großer Mann mit einem Dauergrinsen im Gesicht rührt würdevoll in einem großen Topf aus Aluminium, der über einer Gasflamme hängt. In diesem befindet sich das wohl wichtigste Getränk der Inder, das man auch noch im kleinsten Dorf findet: süßer Milchtee, Chai genannt. Neben dem Gastwirt steht eine Kühltruhe mit einem staubigen Block Eis darin. Hier kommen unsere halbkalten Kingfisher-Biere her. Ein paar gelbe Tonnen markieren den Rand des Fußballfeldes. Ihre Aufschrift entbehrt hier nicht einer gewissen Ironie: „Keep Goa green.“ Das einzig Grüne, was ich in einem Meer aus Staub und Beton ausmachen kann, sind ein paar Palmen, deren Wipfel hinter einem fensterlosen Gebäude hervorragen.

Geländewagen am Strand von Goa
Und dabei sah es vor ein paar Stunden noch so aus!

Die Läden zu beiden Seiten sehen ähnlich verranzt aus wie das Etablissement unserer Wahl. Was diese Läden so verkaufen, wird man als Westler wohl nie verstehen. Es scheint, alles und nichts. Überall laufen Menschen herum, auch das ist normal auf dem Subkontinent. Viele sind in bunte Gewänder gehüllt, bei einigen Männern signalisieren ein Turban und ein wuchernder Bart, dass es sich um Sikhs handelt. Die dunklen Menschen wuseln von A nach B, viele tragen Waren unter dem Arm. Hier und dort sieht man jemanden roten Betelsaft ausspucken.

Die angrenzende Straße ist nicht geteert. Die Staubpiste wird bevölkert von Fahrzeugen in unterschiedlichen Stadien des Verfalls. Es knattert und klappert. Alles ist gesäumt von großen Plakatwänden mit Schriftzeichen in Hindi und bunten Zeichnungen der zahlreichen Gottheiten. Düfte nach Gewürzen wechseln sich ab mit erbärmlichem Gestank nach Kloake und Verwesung.

Menschen warten an Tonnen in Goa
Warten auf den Bus… Von links: Nicht näher kategorisierbarer Inder, Charsten, Daniel, Rennie.

Ich überlege, wie lange es wohl her ist, dass sich bei mir dieser Gleichmut eingestellt hat. Eine Woche? Zwei? Meine Theorie ist, dass der normale Verstand nach einer Weile einfach nicht mehr in der Lage ist, all jene Eindrücke zu verarbeiten, die einem dieses wahnwitzige Land im Minutentakt um die Ohren schleudert. Irgendwann macht der Geist einfach dicht, damit er nicht explodiert. Genau so fühle ich mich nun. Ich nehme zwar alles wahr, aber die Gefühlsregungen bleiben weitgehend aus. Selbst die Verspätung des Busses wird eher beiläufig registriert. Doch dann passiert etwas.

Einer der Angestellten des Busunternehmens – das Büro liegt direkt auf der angrenzenden Ecke – winkt uns zu sich herüber. „Bring backpacks!“, schreit er wild gestikulierend. Es scheint tatsächlich loszugehen. Nur sehe ich nach wie vor nirgends einen Bus.

Der freundliche Mann in der blaugrauen Uniform mit dem Logo der Busfirma geleitet uns auf die andere Straßenseite. Zu einem Geländewagen. Er sieht nicht mal schlecht aus. Ich bin mir jedoch ziemlich sicher, dass wir einen Bus gebucht hatten. Immerhin haben wir knapp 350 Kilometer zurückzulegen.

Transport-LKW in Indien
Modes of transportation…

Während man unsere Rucksäcke aufs Dach packt, erklärt uns der Fahrer des Geländewagens, dass der Bus einen Reifenschaden hatte. Er begleitet seine Aussagen in schwerem indischem Englisch mit zahlreichen Seitwärtsbewegungen seines Kopfes, dem berühmte ‚Head Wobble‘, der erfahrungsgemäß alles bedeuten kann. „You must go headquarters with this car now. There you will find substitute bus.“ So weit, so gut. Das einzige Problem ist nur, dass außer uns offenbar auch noch alle anderen Passagiere des Busses im Geländewagen Platz finden müssen. Ich ende in einer recht unbequemen Haltung mit eingezogenem Kopf im Kofferraum des Tata. Es ist so heiß, dass mir allein das Einsteigen schon wieder einen Schweißausbruch beschert hat. Umgeben von anderen gequält dreinschauenden Travellern finde ich schließlich eine Position, die nicht schmerzt. Daniel sitzt ähnlich eingezwängt mir gegenüber, die anderen haben wenigstens noch Platz auf den Bänken gefunden. Dann brechen wir auf.

Die Fahrt dauert selbstverständlich nicht 10 Minuten wie angesagt, sondern am Ende fast 5 mal so lang. Nahezu eine Stunde im Wahnsinn, der sich indischer Straßenverkehr nennt. Hupen, Abgase, Fast-Unfälle. Nichts Neues.

Als wir ankommen, weiß keiner von uns, wo wir uns eigentlich befinden. Ist aber auch nicht weiter wichtig. Der Bus, den man für uns vorgesehen hat, ist ganz offensichtlich noch nicht fertig. Ihm fehlt ein Rad. Eijiro geht Bier holen, dann sitzen wir alle am Straßenrand und schauen den Indern dabei zu, wie sie das neue Rad montieren. Interessanterweise sieht dieses exakt aus wie das alte. Es hat null Profil, eine Art Slick. Und selbst die Felge ist genauso verbeult und verrostet wie die alte. Wir haben aufgegeben, uns über solche Dinge aufzuregen.

Es kostet die Mitarbeiter der Busfirma eine ganze Weile, das neue Rad an der gewünschten Stelle zu befestigen. Und das, obwohl ich fast zehn Leute zähle, die damit beschäftigt sind.

Dann dürfen wir endlich unsere Sachen in den Bus werfen. Wir sind nun bereits 5 Stunden hinter der Zeit. Doch all das ist schnell vergessen, als wir den Bus besteigen. Wir wussten, es ist ein sogenannter Sleeper Bus, aber anstelle der üblichen Liegesitze hat dieser hier tatsächlich echte Betten! Auf beiden Seiten des ziemlich schmalen Ganges liegen immer zwei Betten übereinander. Ich sehe zwar die eine oder andere Kakerlake davon stieben, aber alles in allem sieht das doch sehr gemütlich aus.

Menschen Kurz vor der schlimmsten Busfahrt
Als alles noch ganz nett schien… Daniel, Rennie, Charsten

Rennie und ich finden zwei Betten im hinteren Teil des Busses, der Rest wirft seine Sachen auf weiter vorne gelegene Plätze. Unsere beiden Betten sind die letzten der oberen Reihen und liegen einander gegenüber. Auf dem unteren Level endet der Gang des Busses in einer Art Höhle, wo noch mal drei Matratzen liegen und es sich eine Gruppe Italiener gemütlich gemacht hat.

Nach einer weiteren halben Stunde des Wartens geht es dann los. Wie erwartet, bewegt sich der Bus sehr langsam vorwärts. Es geht zunächst durch die Stadt, deren Namen wir noch immer nicht kennen. Diese ist trotz der fortgeschrittenen Zeit noch immer sehr belebt und wir stehen ständig in Staus, die sich hinter Kühen gebildet haben. Diese stehen mitunter mitten auf der Straße und verzehren auf unerhabene Weise Müll. Das jedoch ändert nichts daran, dass sie als heilig erachtet und von allen sorgfältig umschifft werden.Verkäuferin vor Schild in Goa

Dann biegen wir ab auf eine größere Landstraße. Unsere Gruppe hat sich in der Mitte des Busses versammelt, um auf unser neues Ziel anzustoßen. Charsten hat mitgedacht und uns noch schnell eine Flasche indischen Rum besorgt. Wir trinken das klebrige Zeug schon seit Wochen, ohne lässt es sich bei der schwülen Hitze fast nicht einschlafen.

Wir sind guter Dinge. Vor uns liegt Hampi, von dem alle in den höchsten Tönen geschwärmt haben. Hinter uns liegen ein paar erlebnisreiche Wochen. Zusammengefunden haben wir uns alle in Kovalam Beach ganz im Süden von Kerala, wo jeder von uns deutlich länger geblieben ist als geplant. Nach vielen Tagen am Strand und Nächten mit Rum, Bier, Gras und handgemachter Musik zogen wir schließlich als Gruppe weiter. Zunächst ging es in einen Ashram, wo wir eine Woche lang Yoga-Klassen besuchten und uns vor den überall herumkreuchenden Riesenspinnen versteckten. Von dort reisten wir nach Varkala an der Steilküste, wo sich noch ein paar andere schräge Leute zu uns gesellten. Nach einer Bootsfahrt durch die Backwaters, ein Wasserstraßennetz in Meeresnähe, verbrachten wir dann noch 10 Tage an den wundervollen Stränden Goas.

"Marco Buch" mit Reisepartnern in Goa 1999
Gruppenfoto im Ashram ohne Charsten: Rennie, Matthias, ich, Eijiro, Daniel

Als die Flasche leer ist, machen wir uns alle auf in unsere Kojen. Nach wie vor ist es höllisch warm und so stehen alle Fenster im Bus noch immer offen. Ich mache es mir bequem auf meiner Liege und beobachte das Leben am Straßenrand. Auch nach Wochen in Indien fasziniert mich noch immer alles, was ich sehe. So ein Land gibt es wirklich kein zweites Mal.

Während ich so glotze, umhüllt mich plötzlich eine süße Wolke aus Rauch. Ich stecke meinen Kopf aus dem Fenster. Und tatsächlich raucht der Typ im Bett vor mir, das durch eine Plastikwand von meinem getrennt ist, eine fette Tüte. Als er mich sieht, wie ich den Joint fixiere, reicht er ihn mir freundlich von Fenster zu Fenster hinüber. Ich nehme ein paar Züge und gebe ihn dann zurück. Nun bin ich wirklich in einer guten Verfassung für ein paar Stunden Schlaf. Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, bin ich auch bereits eingenickt und träume vom Flohmarkt in Anjuna.

Musiker auf dem Anjuna Flohmarkt
Anjuna Flohmarkt

Ich erwache in der Luft. Dann lande ich unsanft auf meiner Matratze. Es kostet mich ein paar Millisekunden um zu verstehen, was gerade passiert ist. Wir sind nun auf einer Landstraße, die vom letzten Monsun völlig zerlöchert ist. Gerade hier hinten im Bus spürt man jede Bodenwelle. Wenn der Fahrer eines der tiefen Schlaglöcher mit der Hinterachse erwischt, wird man förmlich nach oben katapultiert. Habe ich noch kurz gedacht, dass das wohl eine einmalige Sache war, werde ich schnell eines Besseren belehrt. Schon wieder hebt mein ganzer Körper ab. Nun ist auch Rennie mir gegenüber zu sich gekommen und blickt mich mit einem überraschten bis verängstigten Gesichtsausdruck an.

Ich bin nun hellwach, an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Mein Kopf dröhnt vom Rum und vom Gras. Ich bin in einem Zustand, in dem man eigentlich weitertrinken müsste, aber das steht jetzt gerade nicht zur Debatte. Ich habe so schon Probleme, die Fassung zu bewahren. Die Kabine ist heiß und erfüllt vom Diesel-Gestank des Bus-Aggregats. Der Fahrer versucht nun offenbar die Verspätung auszugleichen und lässt den Motor ständig aufheulen. Und nun erwischt er im Minutentakt eines der Schlaglöcher. Der Vorhang der Schlafhöhle wird zur Seite gezogen. Auch die Italiener sind nun offenbar aufgewacht und blicken verängstigt durch die Gegend.

Zum Glück halten wir schon bald für eine kurze Pause. Ich laufe zur Front des Busses und kotze erst mal vor den Kühler. Es kommt nicht viel, denn wir hatten außer ein paar Chips fast nichts zu essen. Leider lindert das meinen Schwindel auch nur für Minuten. Ich fühle mich schlechter als nach manchen Bootsfahrten.

Neben dem Bus sitzen und stehen die Passagiere im Halbdunkel und sehen nun deutlich weniger euphorisch aus als noch vor ein paar Stunden. Wasserflaschen machen die Runde, Bier trinkt nun keiner mehr. Es ist offensichtlich, dass keiner Lust auf die nächsten Stunden hat, aber wir sind noch nicht weit gekommen und es gibt von hier aus keine Alternativen. Dies hier ist wahrlich kein schöner Ort mit den völlig versifften Latrinen, dem halb kollabierten Laden und den Ratten unter jeder Plastiktüte. Aber offenbar scheint ihn momentan jeder dem Innenraum des Busses vorzuziehen.

Als wir alle erneut das Ungetüm besteigen, macht die Gruppe den Eindruck eines Gefangenentransportes. Niemand spricht mehr, jeder ergibt sich seinem Schicksal. Zum ersten Mal sehe ich mir den Fahrer genauer an. Auch ihm steht der Schweiß auf der Stirn. In seinem Blick liegt eine fast unangenehme Entschlossenheit. Zu seinen westlichen Passagieren scheint er kein wirkliches Verhältnis zu haben. Er macht nur seinen Job. Während er aus einem Becher Tee schlürft, versucht er beiläufig einen der Schalter wieder in Gang zu bringen.

Aus dem Armaturenbrett hängen überall Kabel, die meisten der Knöpfe fehlen. Doch in den letzten Wochen habe ich gelernt, dass das einzig Unerlässliche im Straßenverkehr eine intakte Hupe ist. Die Funktionstüchtigkeit dieser hat der Fahrer in den letzten Stunden ununterbrochen unter Beweis gestellt.

Es geht wieder los. Ich versuche, schnell einzuschlafen, weiß aber bereits, dass die Chancen dafür schlecht stehen. Schnell hat der Fahrer die alte Geschwindigkeit erreicht. Es ist vermutlich nicht mal schnell, vielleicht 60 km/h. Aber auf Straßen wie diesen fühlt sich das an wie das Doppelte. Ich mache mich gefasst auf einen Höllenritt. Doch es wird noch schlimmer als befürchtet.

In den nächsten Stunden nicke ich immer mal wieder ein, nur um kurz später wieder durch eine Landung auf der Matratze aufzuwachen. Es scheint mir, dass ich jedes Mal ein paar Zentimeter mehr von der Matratze abhebe. Manche Landungen tun richtig weh und ich habe bereits überall blaue Flecken. An der Flugbahn Rennies kann ich immer sehr deutlich ablesen, wie schlimm das Schlagloch war. Er und ich blicken uns nur noch mit fassungslosen Gesichtern an. Es ist mittlerweile unnötig zu sagen, dass die Wahl der hinteren Betten nicht die cleverste war, und dass man vermutlich auch nicht hätte trinken und kiffen sollen. Es gilt nun nur noch durchzuhalten. Der Rest unserer Gruppe schläft offenbar tief und fest.

Als ich nach einem besonders harten Schlag fast aus dem Bett falle, merke ich, dass ich doch ein paar Stunden geschlafen haben muss. Es ist nun hell draußen. Die Vegetation hat sich auf den letzten Kilometern stark verändert. Wo Goa grün und saftig war, herrscht hier in Karnataka nur noch Staub und Kargheit. Die Sonne brennt vom Himmel und trocknet alles unnachgiebig aus.

An Bord des Busses herrscht nun eine trostlose Stimmung. Jeder, den ich sehe, sieht völlig unerholt und bleich aus. Ein Mädchen auf einer unteren Pritsche übergibt sich verstohlen aus dem Fenster. Ein Paar sitzt im Gang zwischen den Betten und macht den Eindruck, als wären sie die ganze Nacht lang verhauen worden. Ich trinke einen großen Schluck Wasser, um den ganzen Staub hinunterzuspülen, der sich überall im Bus sowie in meiner Mundhöhle angesammelt hat. Da merke ich, dass ich pinkeln muss.

Ich raffe mich auf und torkele durch den Gang nach vorne. Es ist nicht leicht, das Gleichgewicht zu halten. Erst jetzt wird mir klar, dass die Straße und der alte Bus nicht das einzige Problem sind. Der Fahrer fährt wie ein Wahnsinniger. In Indiens Straßenverkehr gilt generell das Recht des Stärkeren, aber dieser Typ steuert den Bus völlig erbarmungslos. Als ich einen Blick durch die Windschutzscheibe erhasche, rettet sich gerade ein Rikscha-Fahrer in den Graben. Die Straße ist so eng, dass der Bus ihn sonst einfach überfahren hätte. Ich kann im Gesicht unseres Fahrers keine Gefühlsregung ausmachen.

Bus während der schlimmsten Busfahrt

Die Fahrerkabine ist dekoriert mit Handmalereien und unzähligen Ketten und Amuletten. Alles klimpert im Takt der Schlaglöcher. Der Fahrer sieht halbtot aus, riesige schwarze Schatten umgeben seine Augen. Ab und an leckt er sich über die trockenen Lippen. Als ich ihn vorsichtig anspreche, geht sein Blick nicht eine Sekunde lang von der Straße weg. Er scheint einen Punkt in der Ferne zu fixieren. Ich frage ihn, ob wir demnächst mal eine Toilettenpause machen können. Er sagt nein. Als ich nachfragen möchte warum, schüttelt er energisch den Kopf und gibt mir mit Gesten zu verstehen, dass ich ihn in Ruhe lassen soll. Ich schleiche zurück zu meiner Pritsche. Auf dem kurzen, beschwerlichen Weg sehe ich ein Mädchen weinen vor Verzweiflung.

Als ich mir gerade überlege, ob ich aus dem Fenster pinkeln kann, stürmt aus der Schlafhöhle eine Italienerin hervor. Sie arbeitet sich wie manisch nach vorne und beginnt ohne Einleitung, den Busfahrer zu beschimpfen. Mir ist nicht ganz klar, wen ich in diesem Moment für wahnsinniger halten soll. Die Nerven liegen bei allen blank.

Hatten wir alle zu Anfang noch nur das Gute in der Bettkonstruktion des Busses gesehen, wird nun langsam klar, wie gemein diese eigentlich ist. Denn man kann ausschließlich liegen. Will man sich hinsetzen, so geht das nur mit eingezogenem Kopf und quer zur Fahrtrichtung. Es gibt keine Position, die diese Fahrt ein wenig erträglicher machen würde. Nach nur zwanzig Minuten ist mir schon wieder derart übel, dass ich mich ein weiteres Mal nach vorne begebe, wo das Schwanken und Schütteln etwas weniger schlimm ist als im hinteren Teil des Busses. Im Gang neben dem Fahrer sitzen schon mehrere Leute und halten sich, die Gesichter bleich, mit starrem Blick an den Stangen fest. Auch Rennie sitzt dort, die Anderen scheinen tatsächlich immer noch zu schlafen.

Der Fahrer muss geisteskrank sein. Er fährt konstant dieselbe Geschwindigkeit, egal wie die Straße beschaffen ist oder welche Hindernisse sich ihm in den Weg stellen. Vor einem Tempelgelände haben ein paar Leute eine provisorische Straßensperre errichtet, um für die Instandhaltung des Tempels von den Vorbeireisenden Spenden einzusammeln. Sie winken freundlich und lächeln, bis sie erkennen, dass unser Fahrer nicht beabsichtigt vom Gas zu gehen. Im letzten Moment ziehen sie ihren Schlagbaum zur Seite und springen in Richtung Böschung. Ich schaue mich um und blicke in die fassungslosen Gesichter meiner Mitreisenden. Allen fehlen die Worte.

menschen und altes Auto in Goa

Eine halbe Stunde später rollen wir endlich in den Busbahnhof von Hampi. Zwölf Stunden Marter liegen hinter uns. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass dies die schlimmste Busfahrt meines Lebens war. Doch nur Rennie kann so richtig mit mir mitfühlen. Die Anderen unterhalten sich bereits wieder über Alkoholika und die Rocklänge von ein paar Mädels am Straßenrand.

Pferde vor altem Gebäude in Hampi
Erster Eindruck von Hampi

Ich schleppe mich vorbei an uralten Gebäuden, auf denen Affen von Dach zu Dach springen. Im Hintergrund schlängelt sich malerisch ein Fluss zwischen riesigen Granitfelsen durchs Tal. Doch mich interessiert nichts davon, ich möchte nur noch schlafen. Ich fühle mich, als wäre ich wochenlang im Laderaum eines Containerschiffes mitgefahren. Bei hohem Seegang.

Alte Gebäude in Hampi
Hampi – in Wirklichkeit schöner als auf diesem abfotografierten Analog-Foto

Tatsächlich nehme ich nur ein schnelles Essen zu mir und schlafe dann für mehr als 24 Stunden. In meinen Träumen legen wir noch viele weitere Kilometer auf dieselbe beschwerliche Art und Weise zurück. Dem Busfahrer wachsen Hörner und die Abgase des Busses riechen nach Schwefel.

Als ich am nächsten Morgen erwache, liegt vor unserem Zimmer aufgebahrt ein toter Inder. Er war der Hausherr, der vor ein paar Tagen verstorben ist. Mit einer herzlichen Gastfreundlichkeit lädt man uns alle zur Trauerfeier ein, bei der es sehr viele leckere Sachen zu essen gibt. Danach fühle ich mich endlich wiederhergestellt. Als ich aus dem Haus hinauslaufe, um den letzten Ort auf dieser Reise zu erkunden, mache ich einen großen Bogen um den Busbahnhof. Es gibt zwei Dinge, die ich so bald nicht wiedersehen möchte: Den Bus. Und seinen Fahrer.

Die schlimmste Busfahrt endet zwischen diesen alten Gebäuden in Hampi

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