Die Macht der Berührung – Mein erster Kontakt mit Tantra Flow

© Mena Zoo Photography
Mit freundlicher Genehmigung von Mena Zoo Photography.

„Zärtlichkeit ist eine Waffe“ (Clemens von Brentano)

Tantra what? Wie es so oft ist im Leben: An manche Erfahrungen gerät man ohne großes Zutun. Ich bin nach langer Abwesenheit gerade wieder in Berlin angekommen und fühle mich traurig, isoliert und außen vor. Genau in diesem Moment erzählt mir ein Freund von einem Workshop, dessen Inhalt einvernehmliche Berührung ist – Tantra Flow. Irgendetwas in mir hallt nach und nach kurzem Zögern folge ich dem Ruf. Ein paar Stunden später sitze ich bereits mit einer Handvoll anderer Menschen in einem kerzenbeleuchteten Raum in Berlin Friedrichshain – neugierig, unsicher, aufgeregt.

Tantra Flow: Emotionen zulassen, Blockaden lösen

In einer kurzen Vorstellungsrunde fasst jeder kurz zusammen, was er sich von diesem Abend verspricht. Jura, die Leiterin des Workshops, sieht sich in der Rolle des Vermittlers. Sie möchte uns die Möglichkeiten an die Hand geben, um von uns selbst zu lernen.

Ich komme geradewegs aus meiner alten Heimat, wo ich die letzten Wochen gemeinsam mit meiner Mutter und meiner Schwester unseren schwerkranken Vater begleitet habe, der bald sterben wird. Ich verspreche mir vom Abend etwas weniger Traurigkeit und im besten Fall etwas Trost.

Nach der Vorstellung stehen wir alle auf, verteilen uns im Raum und schliessen unsere Augen. Zu lauter Musik werden wir dazu angehalten, unseren Körper selbst entscheiden zu lassen, ob und wie er sich bewegen möchte. Ich stelle erstaunt fest, dass mein Körper sich gerade überhaupt nicht bewegen möchte. Fast wie versteinert bleibe ich auf meinem Platz in der Ecke stehen und fühle mich isoliert vom ganzen Geschehen. Erst jetzt wird mir wirklich klar, was die letzten Wochen des Kummers und der Verzweiflung mit mir gemacht haben.

Ganz wichtig beim Tantra Flow ist, wie im Grunde in allen spirituellen Praktiken, der Atem. Tief durch die Nase einatmen, und dann durch den Mund alles rauslassen, was raus muss. Wir werden von Jura dazu ermutigt, uns beim Ausatmen von unseren Frustrationen und Blockaden zu trennen. Töne können dabei oft helfen und so vernehme ich aus den Mündern der um mich herum Tanzenden schon bald Schreien, Stöhnen, Wimmern und Gelächter. Zwischendurch steigt der Geräuschpegel im Raum dermaßen an, dass man die Musik kaum mehr hören kann.

Es hilft mir tatsächlich sehr, die Menschen um mich herum so zu hören. Zu hören, wie sie sich ihren Emotionen ergeben. Zu hören, wie sie alle Barrieren fallen lassen. Und so tue ich schließlich dasselbe, schreie aus vollem Halse und strecke dabei meine Zunge weit heraus. Schnell merke ich, dass sich in mir etwas auflöst, was dort schon lange festgesteckt hat. Schon bald weine ich wie ein Schlosshund, mit immer noch geschlossenen Augen. Endlich finde ich einen Weg, die Trauer, die Hilflosigkeit und die Wut der letzten Wochen herauszulassen. Denn hier geht es nicht länger darum, die Fassung zu bewahren. Im Gegenteil. Ein befreiendes Gefühl.

Der erste Teil des Tantra-Workshops ist genau darauf ausgelegt: Frustrationen und Blockaden abzuschütteln, um offen zu werden für das, was heute Abend noch kommt.

Wir werden nun angehalten, die Augen wieder zu öffnen und bedächtig im Raum umherzulaufen. Nacheinander sollen wir dabei verschiedene Äußerungen gerade jener Person ins Gesicht sagen, der wir in diesem Moment begegnen – laut und selbstsicher:  ‚I am a sexual being!‘, ‚I like to be touched!‘, ‚I like to be touched on my terms!‘ Mit immer noch verheulten Augen blicke ich meinem wechselnden Gegenüber direkt ins Gesicht und empfinde große Befriedigung dabei, diese Dinge laut auszusprechen. Ich merke förmlich, wie sich nach nur kurzer Zeit meine Körperhaltung verändert. Ich laufe aufrechter, selbstbewusster. Mit einigen der Menschen im Raum muss ich über die Aussagen lachen, doch auch das ist OK. Alles ist OK. Und das ist nach Wochen der unbewussten Kontrolle meiner Gefühle ganz schön erfrischend.

Tantra Flow ist auch Selbstliebe

Trantra: Silhouette einer Frau
Mit freundlicher Genehmigung meiner guten Freundin Eva von Mena Zoo Photography.

Für den zweiten Teil des Tantra-Abends haben wir uns alle Augenbinden mitgebracht. Jeder wird dazu ermutigt, sich seinen persönlichen Lieblingplatz im Raum zu suchen. Ich bin verblüfft, dass ich mich mittendrin am allerwohlsten fühle und lege mich zwischen andere Füße, Beine und Köpfe. Von nun an werden wir nichts mehr sehen, auch wenn wir die Augen öffnen. Ich verstehe, dass damit zum Einen die Privatsphäre der Anderen geschützt wird und es zum Anderen auf diese Weise deutlich einfacher ist, sich ganz auf sich selbst zu konzentrieren. Denn jetzt ist Selbstliebe unser Thema.

Es ist erstaunlich, wie wenig man daran gewöhnt ist, sich selbst anzufassen. Selbstbefriedigung, klar. Aber wer streichelt sich schon mal einfach so bewusst die Haare auf dem Arm oder umarmt sich liebevoll selbst? Im Laufe der nächsten Dreiviertelstunde, inmitten eines Haufens schwitzender, mit sich selbst beschäftigter Fremder, erlebe ich einige außergewöhnliche Momente mit mir und meinem eigenen Körper. Jura hält uns dazu an, uns einfach immer gerade so zu berühren, wie es sich gut anfühlt. Ohne Zwang, ohne Scham. Zunächst fühlt es sich für mich gut an, meine Hände einfach auf der Mitte meiner Brust liegen zu lassen. Und siehe da: Genau hierhin, auf unser schlagendes Herz, sollen wir unsere Hände zurückbringen, wenn wir in diesem Prozess den Kontakt zu unserem Körper verlieren.

Nach und nach erforsche ich diesen meinen Körper, der mich jetzt schon seit Jahrzehnten begleitet und mir doch offenbar noch immer recht unbekannt ist. Ich entdecke Stellen, deren Berührung sich toll anfühlt und bin überrascht, dass ich von einigen dieser Stellen noch gar nichts wusste. Hineinzufühlen in denjenigen, der berührt und denjenigen, der berührt wird, ruft dabei ganz unterschiedliche Reaktionen hervor. Und in diesem Fall bin ich ja beide dieser Personen, Berührer und Berührter.

Um mich herum wird schon bald gestöhnt, gelacht und geweint. Für mich selbst gestaltet sich all das hier jedoch weniger dramatisch. Und doch hinterlässt es einen bleibenden Eindruck. Jura ermutigt uns auch dazu, uns selbst zu fragen, ob wir noch etwas an Emotionen zurückhalten. Doch ich kann das verneinen. Ich will nicht laut sein. Ich will nicht stöhnen. Ich bin auch nicht im Ansatz sexuell erregt. Und meine Traurigkeit, die auch in dieser Übung ein Ventil findet, äußert sich in leisen Tränen, die meine Augenbinde durchweichen.

Als wir, nun wieder ohne Augenbinde und stehend, den Raum erkunden, kann man förmlich spüren, wie sehr alle mit Energie aufgeladen sind. Langsam und bedächtig schreiten wir durch den Raum. Der Trick dabei: Der mönchische Blick. Will meinen, wir blicken alle nach unten, sodass wir zwar die Menschen um uns herum wahrnehmen und so gegebenenfalls unsere Laufrichtung anpassen können, jedoch nie erkennen, wem wir gegenüber stehen. Auch macht es das noch leichter, sich weiterhin voll und ganz auf die Energien zu konzentrieren, die ich spür wie selten zuvor.

Es geht nun darum herauszufinden, wo die eigene Energie endet und wo die der Anderen beginnt. Außerdem werden wir dazu angehalten, genau hineinzuspüren, wie offen sich die eigene Energie gestaltet, wie die der Anderen. Ich spüre eine große Offenheit in mir, werde jedoch von einer Person in der Gruppe regelrecht abgestossen. Doch kein Grund zur Sorge. Jura erwähnt genau jetzt, dass auch das völlig normal ist und nicht überbewertet werden sollte.

Ich finde es spannend zu beobachten, was genau passiert, wenn sich bei unseren langsamen Gehbewegungen die Energien zweier Menschen nahekommen. Tatsächlich berührt man einander schon lange vor dem physischen Kontakt der Körper. Mehrmals wähle ich absichtlich den Weg mitten durch die Gruppe, um noch mehr ‚Energie-Zusammenstösse‘ herbeizuführen.

Tantra: Paar in der Umarmung vor winterlichem Wald
Mit freundlicher Genehmigung von Mena Zoo Photography.

Im nächsten Schritt sollen wir nun einen Partner finden, ausschließlich anhand der energetischen Anziehung, die wir empfinden. Interessanterweise stehe ich in dem Moment, in dem Jura das verkündet, bereits direkt neben einer Person, bei der ich eine große Anziehung verspüre. Ich stoppe in meinem Gang und die besagte Person tut es auch. Es fühlt sich fast so an, als könnten wir beide uns gar nicht mehr weiterbewegen, selbst wenn wir wollten. Es ist ein erwartungsvolles Zögern. Ein ungewöhnlicher und sehr erotischer Moment. Schließlich mache ich den einen wichtigen Schritt auf die Person zu und blicke ihr ins Gesicht. Aus knapp 20 Menschen habe ich gewissermaßen blind jene Frau gefunden, die mich schon zu Anfang des Abends in ihren Bann geschlagen hat.

Nun haben wir beide die Wahl, ob wir den letzten Teil des Abends miteinander erleben wollen, und werden dazu ermutigt, diese Frage ganz ohne Worte zu klären. Ein Blick zwischen uns und ein beiderseitiges Lächeln gibt uns schnell die Antwort. Während wir darauf warten, was als nächstes geschehen wird, blicken wir uns lange tief in die Augen und erfreuen uns beide sichtlich daran.

Wheel of Consent – Das Rad des Einvernehmens

Das sogenannte Wheel of Consent der Amerikanerin Betty Martin ist Grundlage dessen, was nun folgt: Gegenseitige Berührung. Während uns Jura dieses Kommunikationskonzept erklärt, halten meine Tantra-Partnerin und ich uns bereits an den Händen, was sich sehr schön anfühlt. Wir sitzen einander gegenüber, unsere Knie berühren sich. All diese Nähe hat sich von ganz alleine ergeben und fühlt sich absolut selbstverständlich an.

Zunächst sollen wir festlegen, wer zuerst der Nehmer und wer zuerst der Geber ist. Als wir das mit ein paar Blicken einvernehmlich getan haben, teilt uns Jura mit, dass wir es nun genau andersrum machen sollen. Kaum hat sie das gesagt, bittet sie uns auch schon hineinzuspüren in dieses Gefühl, dass unsere Erwartung enttäuscht wurde. Und tatsächlich: Fast wie ein trotziges Kind ärgere ich mich etwas darüber, dass ich nicht bekommen habe, was ich wollte. Nachdem ich das bewusst betrachtet habe, kann ich darüber schmunzeln.

Geben und Nehmen sind die erste Hälfte des Wheel of Consent. Meine Partnerin ist zunächst die Nehmerin. Sie sagt mir, was sie von mir gerne hätte, wie sie von mir gerne berührt werden würde. Ich habe in jedem Moment die Möglichkeit, diesen Wunsch anzunehmen oder auch abzulehnen.

Zunächst möchte sie im Gesicht gestreichelt werden, daraufhin soll ich meine Stirn an ihre legen. Damit bin ich OK und ich geniesse diese Zärtlichkeit sehr. Dann möchte sie von mir eine Verspannung im Rücken wegmassiert bekommen. Auch das tue ich gerne, auch hier geniesse ich die Berührung ebenso wie sie selbst. Es ist schwer, ihr nicht wie automatisiert etwa ans Ohr zu fassen, sondern dafür zunächst ihr Einverständnis einzuholen. Es verhilft mir dazu, die einzelnen Berührungen viel bewusster wahrzunehmen.

Nun bin ich dran: Ich nehme, sie gibt. Und auch das natürlich nur, wenn sie auch möchte. Ich wünsche mir von ihr, dass sie mich umarmt und damit ist sie einverstanden. Um uns so eng wie nur möglich zu umarmen, klettert sie dabei auf meinen Schoss. Nicht einen Moment fühlt es sich unnatürlich an, mit ihr so intim zu sein. Ich geniesse die Verschmelzung unserer Körper und realisiere, dass ich mich genau hiernach gesehnt habe. Wieder muss ich etwas schluchzen, ihre Berührung lässt mich noch mehr der angestauten Gefühle loslassen. Sie merkt das und streichelt mir zärtlich den Hinterkopf. Ich fühle mich bei ihr gut aufgehoben.

Nun wünsche ich mir, dass sie die empfindliche Stelle in meinem Nacken berührt, die ich erst vor einer Stunde selbst entdeckt habe. Sie akzeptiert und tut es mit Hingabe. Doch als ich sie bitte, meinen Hals zu küssen, lehnt sie ab.

Dann wechseln wir zu den letzten beiden Teilen des Wheel of Consent, allowing und accepting. Will meinen: Jetzt darf zunächst ich mir überlegen, wie ich meine Partnerin gerne berühren möchte, diesmal aber sozusagen für mein eigenes Vergnügen. Wieder kann sie natürlich zustimmen oder ablehnen.

Tantra: Eine Hand hält eine andere
Mit freundlicher Genehmigung von Mena Zoo Photography.

Ich möchte zunächst, dass wir uns noch mal umarmen, während sie auf mir sitzt. Sie will. Während wir uns engumschlungen halten, entsteht in mir der Wunsch, an ihren Haaren zu riechen. Auch das ist OK für sie.

Nachdem nun auch noch mein Geruchssinn komplett involviert ist, fällt es mir schwer, nicht gleich zum nächsten Schritt überzugehen, den ich mir nun wünschen würde: Ich würde gerne ihren Nacken küssen. Stattdessen halte ich inne und bitte sie um ihre Zustimmung. Doch sie möchte das nicht. Meine Enttäuschung darüber nehme ich bewusst zur Kenntnis, dann lasse ich sie los und frage meine Partnerin, ob ich stattdessen ihre Ohren streicheln darf. Das darf ich und ich nehme sofort beide in Beschlag. Schnell teilt sie mir mit, dass ihr das zu viel ist und ich mich auf eines ihrer Ohren konzentrieren soll. Diesen unmittelbaren Austausch über die Befindlichkeit von beiden Partnern empfinde ich als sehr befriedigend, befreiend und überraschend zusammenschweißend.

Dann tauschen wir wieder die Rollen und sie wünscht sich, dass sie sich in voller Länge auf meinen Rücken legen darf. Ich bin damit, wie bereits mit allem zuvor, einverstanden und ertappe mich bei der Frage, was ich wohl ablehnen würde. All diese Berührungen haben für mich in nur ganz wenigen Momenten eine sexuelle Note, was ich erstaunlich finde.

Als sie auf mir zu liegen kommt, scheint es, als würden sich unsere Körper so sehr berühren, wie es nur irgendwie geht. Ich spüre ihre nackten Füsse an meinen, das Gewicht ihres ganzen Körpers, ihre Wange an der meinen und ihre warmen Finger, die sich mit meinen verzahnt haben. Das behagliche Gefühl, das ich dabei empfinde, ist sehr intensiv. Ich spüre jedem einzelnen Berührungspunkt unserer Körper bewusst nach und führe mir vor Augen, was für einen besonderen Moment wir gerade teilen.

Dann wünscht sie sich, dass ich mich auf sie lege, doch schnell merkt sie, dass ihr das zu schwer ist. Ich merke sehr deutlich, wie gut es auch ihr tut, einfach direkt auszusprechen, was sie möchte und was eben nicht.

Zum Ende unserer gemeinsamen Zeit möchte sie, dass ich sie in den Arm nehme, und scheint sich dafür extra klein zu machen. Ich empfinde dabei sehr viel Zuneigung und einen starken Beschützerinstinkt. Als ich schon angefangen habe, behutsam ihr Haar zu streicheln, hole ich mir hierfür noch kurz ihr Einverständnis.

Tantra Flow: Spread the love!

Als wir noch mal allesamt in einem Kreis zusammenkommen, fühlt es sich fast so an, als würde ich jetzt ganz anderen Menschen gegenüber sitzen als noch zuvor. Die meisten von ihnen strahlen und blicken geradezu verzückt in die Runde. Ich erblicke strubbelige Haare, verrutschte Klamotten und gerötete Wangen. Vor allem aber sehe ich in vielen Gesichtern eine ganzheitliche Zufriedenheit.

Wir nutzen die Gelegenheit, um uns über unsere Gefühle und Gedanken auszutauschen und uns beieinander zu bedanken. Jura fungiert als Moderatorin und lässt immer denjenigen zu Wort kommen, der gerade den größten Redebedarf verspürt.

Der erste Gedanke, der mir in den Kopf schiesst und den ich mit der Tantra-Gruppe teilen möchte: Warum machen wir alle das nicht viel öfter? Menschen treffen, Menschen mögen, Menschen umarmen. Und das nicht nur mit Freunden und Partnern, sondern auch mit wildfremden Menschen.

Würden alle Menschen sich so voller Liebe fühlen wie ich in gerade diesem Moment; es könnte sicher niemandem schaden.

Wer Interesse hat, mehr über Tantra, die Kraft der Berührung und Persönlichkeitswachstum erfahren möchte, der sollte mal auf Juras Seite vorbeischauen. Herzlichen Dank auch an Eva von Mena Zoo Photography für die tollen Fotos!

Tantra

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